Der Gastprofessor
Drei-Kreise-Nachrichtenredaktion: Die Staatspolizei fand heute die Leiche des neuesten Opfers des Serienmörders, der seit Monaten in den drei Landkreisen sein Unwesen treibt. Mit diesem bisher letzten Opfer, einem siebenunddreißig Jahre alten Faulbeckenreiniger, steigt die Gesamtzahl der in den letzten sechzehn Wochen auf mysteriöse Weise ermordeten Personen auf zwölf. Ein Polizeisprecher betonte, die Verbrechen wiesen keine erkennbaren Übereinstimmungen auf; Alter und Beruf der Opfer, die Tatorte und die zeitlichen Abstände zwischen den Morden seien von Fall zu Fall ganz verschieden. Der einzige rote Faden, der sich durch diese grausige Mordserie ziehe, abgesehen von dem mit Knoblauch eingeriebenen und stets aus allernächster Nähe durchs Ohr ins Gehirn des Opfers abgefeuerten Dumdum-Geschoß Kaliber.38, sei die Handschrift des Mörders – nämlich das Fehlen einer Handschrift, also mit anderen Worten die absolute Wahllosigkeit und Zufälligkeit der Morde. Und jetzt, sagte der Moderator mit heiserer Stimme, nehmen wir noch ein paar Anrufe entgegen. Er nannte eine Telefonnummer und wiederholte sie mehrmals.
Ohne zu überlegen, schnappte ich mir das schnurlose Telefon und tippte die Nummer ein. Ich hörte einen Summton am anderen Ende. Aus einer auf Band gesprochenen Ansage erfuhr ich, daß ich der siebte auf der Warteliste sei. Sie müssen wissen, daß für jemanden, der sein halbes Leben in Rußland Schlange gestanden hat, siebter zu sein praktisch bedeutet, daß man als nächster an der Reihe ist. Nach einer Weile kam wieder eine Ansage, da war ich schon an zweiter Stelle, dann an erster. Einen Augenblick später kam die Stimme des Moderators gleichzeitig aus dem Telefon und dem Radio.
»Hallo.«
»Ja. Hallo«, schrie ich ins Telefon. Eine von atmosphärischen Störungen verzerrte Stimme, die mir vage bekannt vorkam, hallte aus den Lautsprechern der Anlage wider. »Ja. Hallo«, sagte sie.
»Ich bin eben erst in Amerika angekommen«, schrie ich ins Telefon.
»Ich bin eben erst in Amerika angekommen«, hörte ich mich über die Lautsprecher schreien.
»Stell dein Radio leiser. Ja, so ist es gut. Was ist dein Henkel?«
»Henkel?« – »Henkel?«
»Dein Name?«
»Ja. Falk, Lemuel.« – »Ja. Falk, Lemuel.«
»Welcher von beiden ist dein Vorname, Falk oder Lemuel?«
»Lemuel.« – »Lemuel.«
»Also schön, Lemuel, willkommen in den US von A. Was, äh, hast du gesagt, wo du herkommst?«
»Da bin ich Ihnen nicht sicher.« – »Da bin ich Ihnen nicht sicher.«
»Du bist uns nicht sicher? Ha, ha! Kleiner Scherz. Aber Spaß beiseite: Wieso bist du nicht sicher?«
»Ich bin in Leningrad geboren …« – »Ich bin in Leningrad geboren, aber ich bin aus Sankt Petersburg hierher gekommen. Geographisch nehmen beide denselben Platz ein. Emotional sind sie Lichtjahre auseinander.«
»Sankt Petersburg, das liegt, äh, in Rußland, stimmt’s? Also, was führt dich nach Amerika, Lemuel?«
»Das Chaos führt mich …« – »Das Chaos führt mich nach Amerika.«
»Läufst du vor ihm davon oder darauf zu? Ha ha ha ha!«
»Beides. Ich dachte, euer Chaos wäre.« – »Beides, ich dachte, euer Chaos wäre schöner. So blöd es klingt, ich dachte, bei euch wären die Straßen mit Sony-Walkmans gepflastert.«
»Du bist schon ein komischer Heiliger, Lemuel. Willst du hier den Clown spielen und mich verarschen oder was? Oder hast du einen in der Krone? Kleiner Scherz am Rande. Aber sag mir eins, Lemuel, als jemand, der direkt vom Schiff kommt, sozusagen: Was ist dir als der größte Unterschied zwischen Amerika und Rußland aufgefallen?«
»Erstens, eure Städte, die Entfernungen …« – »Erstens, eure Städte, die Entfernungen dazwischen, sogar die Bürger sind kleiner als in Rußland, aber vielleicht wirken sie bloß kleiner, weil ich sie mir überlebensgroß vorgestellt habe. Zweitens, eure Wohnungen riechen nicht nach Petroleum.«
»Meine riecht nach Katzenstreu. Ha ha! Falls du zuhörst, Charlene, Schatz, ich hab nur Spaß gemacht. Okay, Lemuel, was wolltest du loswerden?«
»Loswerden?« – »Loswerden?«
»Warum hast du angerufen. Worüber möchtest du reden?«
»Ich möchte über.« – »Ich möchte über die Mordserie reden. Ich möchte Ihnen folgendes sagen – die Verbrechen wirken vielleicht zufällig, aber diese scheinbare Zufälligkeit ist nichts anderes als der Name, den wir unserer Unwissenheit geben.«
»Wenn ich dich richtig verstehe, willst du sagen, in den Morden ist eine
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