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Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition)

Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition)

Titel: Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition)
Autoren: Jonathan Lethem
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So wurden Schriftrollen aus einem Schrank genommen, so hüllte ihr Großvater beim Passah den Afikoman zärtlich in eine Serviette. Miriam hatte den Eindruck, Juden führten sich immer so auf, wenn sie mit wichtigen Papieren zu tun hatten oder in einem Buch blätterten, als wären sie gleichzeitig unwürdig, dankbar, ausgezeichnet und von diskretem Trotz, alles auf einmal. Rose schulte sie bei der Handhabung einer Langspielplatte wie dem Burl Ives oder ihren eigenen Beethoven-Symphonien und schilderte Miriam das, was sie noch nicht einmal versuchen durfte, richtig zu machen: die Mittelfinger auf dem Schildchen gepaart, stabilisierende Daumen am Außenrandder Platte. Nicht einmal ein Atemzug durfte die in die Schluchten eingeritzte, geheiligte, dunkel schimmernde Musik streifen, wenn die Platte aus der raschelnden Innenhülle heraus- und wieder in sie hineinglitt. Wie genau die Innenhülle selbst wieder in die äußere Kartonhülle geschoben wurde. Wahrscheinlich konnte schon ein schiefer Blick das Ding zerkratzen. Gott wusste, wieviele schiefe Blicke es in diesem Haus gab.
    He was six weeks a-falling, Lord, Lord, Lord / And they had a featherpicking, Lord, Lord, Lord. Scheinbar ein ganzes Jahr ihres Lebens saß Miriam hingerissen oder gelangweilt da, jedenfalls beschwichtigt, ließ sich durch den Kopf gehen, was Ives mitzuteilen hatte, vergnügte Parabeln von Enten, Walen, Ziegen und Gänsen. Einmal war Sol Eaglin, der schmucke Dampfplauderer Sol vor seiner Erniedrigung, der lüsterne Sol, bei einem seiner geheimnisvollen Besuche im Wohnzimmer stehengeblieben und hatte sich über Miriam und ihr Album lustig gemacht.
    »Was weiß deine Kleine denn über Enten, Rose? Warst du schon mal auf einer Farm, Püppchen?«
    »Sie kennt Enten«, sagte Rose. »Sie war mal chinesisch essen.«
    In der gnadenlos unsentimentalen Sicht der städtischen Pragmatikerin Rose waren Tiere natürlich zum Essen da. (Ein Dreck machendes Haustier kam für Miriam nicht in Frage.) Rose runzelte die Stirn, wenn Kinderbücher stärker in zoologische oder anthropomorphe Richtungen abdrehten als etwa bei Äsop mit seiner wasserdichten Moral (wobei Rose immer das Saure der Trauben betonte, die Unzugänglichkeit der Leckerbissen ganz unten in der Vase). Ein Entlein oder ein Kaninchen zu sentimentalisieren, war für Miriam immer mit der Verachtung verbunden, die ihre Mutter katholischen Ritualen entgegenbrachte: Ostereiern, faden Milchschokoladenhäschen (»Tut mir leid, aber deutsche Schokolade ist bei mir im Haus verboten«, sagte Rose voller Ironie und Kummer und seufzte dann ihre üblichen Beschwörungsformeln: »Die machten immer alles am besten, alles« ), Aschekreuzen, idiotischen irischen und italienischen Nachbarn unter der Fuchtelidiotischer Priester. Was hatte diese ungewöhnliche graue Gans, die nicht mal zu einer Mahlzeit taugte, also zu bedeuten? He was nine months a-cooking, Lord, Lord, Lord / Then they put him on the table, Lord, Lord, Lord / And the knife couldn’t cut him, Lord, Lord, Lord / And the fork couldn’t stick him, Lord, Lord, Lord. Wo war Äsop, wenn man ihn mal brauchte? Von allen Songs des Albums studierte Miriam diesen am hilf losesten. So they took him to the sawmill, Lord, Lord, Lord / Oh, it broke the saw’s tooth out, Lord, Lord, Lord. Eines Tages erbarmte sich Rose endlich ihrer Tochter und erklärte ihr den Song. Die Lösung war dann nicht schwer zu verstehen, aber mit acht Jahren wäre Miriam nie von allein darauf gekommen.
    Und heute Abend, neun Jahre später, auf dem briefmarkengroßen Podium eines Clubs, der so klein war, dass die erste Reihe der Tische auch die letzte war, in dem Rauchreben an der Decke hingen und eine Illusion von Ferne schufen in einem Raum, der sich ohne Bugholzstühle, Stimmen, Lärm und Dreck, ordentlich beleuchtet und gelüftet, als unwesentlich größer als das Wohnzimmer erwiesen hätte, in dem Miriam die Platten ihrer Mutter auswendig gelernt hatte, in dem irgendwie aber auch noch eine Bühne und eine Wandbar für italienischen Kaffee und Rotwein Platz fanden sowie eine ganze komplizierte Gesellschaft, die Miriam gerade zu verstehen und zu manipulieren lernte – hier schmalzte der Tenor-Folksänger auf dem winzigen Podium Burl Ives’ Version des Folksongs. Haargenau. Note für Note, Lautgebärde für Lautgebärde, Silbe für Silbe. The last time I seen him, Lord, Lord, Lord / He was flying over the ocean, Lord, Lord, Lord / With a long string of goslings, Lord, Lord, Lord. Miriam
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