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DAS 5. OPFER

DAS 5. OPFER

Titel: DAS 5. OPFER
Autoren: Jennifer McMahon
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Auszug aus Neptuns Hände :
    Die wahre Geschichte der ungelösten Morde von Brighton Falls
    von Martha S. Paquette
    Es begann mit den Händen. Rechte Hände, sauber am Handgelenk abgetrennt. Sie kamen auf den Granitstufen der Polizeiwache in leeren rot-weißen Milchkartons an, die oben zusammengeheftet waren und Fotos von vermissten Kindern auf der Rückseite hatten – das ganze Paket war in braunem Fleischerpapier verpackt, ordentlich mit einem dünnen Band verschnürt, wie eine Gebäckschachtel.
    Der Gerichtsmediziner sagte der Polizei, sie sollten nach einem Chirurgen oder Fleischer suchen, jemandem, der sich mit Knochen und Sehnen auskannte. Es war fast so, als würde er die Technik des Mörders bewundern, als wäre da etwas Schönes an der Sauberkeit der Schnitte, die so perfekt waren, dass es schwerfiel, sich vorzustellen, die Hände wären jemals mit etwas verbunden gewesen; als wären es eigenständige Objekte.
    Der Mörder ließ die Frauen nach der Entfernung der Händenoch genau vier Tage am Leben. Er kümmerte sich gut um sie, brannte ihre Wunden aus, pumpte sie wegen der Schmerzen mit Morphium voll, pflegte sie wie kostbare Orchideen.
    Am fünften Morgen erwürgte er sie; dann ließ er ihre Leichen wie Ausstellungsstücke an öffentlichen Plätzen zurück: der städtischen Grünfläche, einem Park, dem Rasen vor der Bibliothek. Jede Frau war nackt, bis auf ihren Verband, der leuchtend weiß und liebevoll angelegt war wie ein perfekter kleiner Kokon am Ende ihres Arms.

Neptuns letztes Opfer
    DAS ERSTE, WAS SIE TUT , als sie aufwacht, ist, nach ihren Händen zu sehen. Sie weiß nicht, wie lange sie ohnmächtig war. Stunden? Tage? Sie liegt auf dem Rücken, mit verbundenen Augen; die Arme befinden sich wie bei einem Taucher über ihrem Kopf, sind an einem Metallrohr festgebunden. Ihre Hände sind an den Handgelenken mit Klebeband zusammengeklebt – aber sie sind beide noch da.
    Danke, danke, danke, Jesus, liebe, gute Mutter Maria, ihre beiden Hände sind noch da. Sie wackelt mit ihren Fingern und erinnert sich an ein Lied, das ihre Mutter zu singen pflegte:
    Wo ist Däumchen? Wo ist Däumchen?
    Hier bin ich, hier bin ich.
    Wie geht es Ihnen heute, mein Herr?
    Sehr gut, vielen Dank.
    Renn davon, renn davon.
    Ihre Fußgelenke sind eng zusammengebunden, mit noch mehr Klebeband, ihre Füße prickeln schmerzhaft.
    Sie hört Neptun atmen, und es klingt beinahe mechanisch, dieser kratzende Rhythmus: ein, aus, ein, aus. Tucker, Tucker, Puff, Puff. Ich denke, ich kann, ich denke, ich kann.
    Neptun nimmt ihr die Augenbinde ab, und das Licht tut ihren Augen weh. Alles, was sie sieht, ist ein dunkler Umriss über ihr, und es ist nicht Neptuns Gesicht, das sie darin sieht, sondern alle Gesichter; das ihrer Mutter, das ihres Vaters, das von Luke, dem Bäcker im Donutladen, das ihres Freundes aus der Highschool, der sie niemals anfasste, es aber mochte, sich einen runterzuholen, während sie zusah. Sie sieht das Gesicht von Jesus, aus buntem Kirchenfensterglas, die Augen der Frau ohne Beine, die früher während der Frühstücksstoßzeit vor dem Denny’s um Geld bettelte. All diese Gesichter drehen sich wie ein Kreisel auf Neptuns Kopf, und sie muss ihre Augen schließen, weil ihr, wenn sie zu lange hinsieht, schwindlig wird und sie sich übergeben muss.
    Neptun lächelt auf sie herunter, seine Zähne sind hell wie ein Halbmond.
    Sie versucht ihren Kopf zu drehen, aber ihr Hals schmerzt von ihrem Kampf vorhin, und sie kann ihn nur einen Bruchteil eines Zentimeters bewegen, bevor der Schmerz sie zu einem quietschenden Halt zwingt. Sie scheinen in einer Art Lagerhaus zu sein. Kalter Zementfußboden. Geschwungene Metallwände, die mit elektrischen Kabeln übersät sind. Überall stehen Kisten. Alte Maschinen. Der Ort riecht nach Kirmes – nach vergammelten Früchten, Fett, verbranntem Zucker, Heu.
    »Es hätte nicht so kommen müssen«, sagt Neptun und schüttelt den Kopf, schnalzt scheltend mit der Zunge.
    Neptun geht pfeifend im Kreis um sie herum. Es ist beinahe ein Tanz, mit einem Federn bei jedem Schritt, einem kleinen Hüpfer. Neptuns Schuhe sind aus billigem Lederimitat, völlig verkratzt, die Lauffläche glatt gelaufen, sodass sie besser über den Boden gleiten. Ganz plötzlich erstarrt Neptun, beäugt sie einen Augenblick länger, hört dann auf zu pfeifen, dreht sich um und geht davon. Schritte hallen auf dem Zementfußboden. Die Tür schließt sich mit einem schweren, dumpfen, hölzernen Aufschlag. Ein Riegel
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