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DAS 5. OPFER

DAS 5. OPFER

Titel: DAS 5. OPFER
Autoren: Jennifer McMahon
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Teil eines Pick-up-Trucks hineinzubekommen.« Er sagte das immer mit den Händen tief in die Taschen seiner Carharrt-Hose geschoben und einem jungenhaften Grinsen im Gesicht, das das kleine Grübchen in seiner rechten Wange zum Vorschein brachte. Len lebte allein in einem alten, weiträumigen Farmhaus, in dem jeder Raum vollgestopft war mit Büchern und Kunst und Möbeln, die nicht ganz zusammenpassten.
    »Das ist die Zigeunerin in mir«, sagte sie ihm dann und beugte sich vor, um seine Wange zu küssen.
    »Zigeunerin, Blödsinn«, spottete er daraufhin. »Du lebst wie eine Kriminelle auf der Flucht.«
    MIT EINEM DREIFACHEN ESPRESSO in der Hand ging Reggie wieder nach oben, schlüpfte mit den Füßen in ihre Clogs und öffnete die Tür zur Brücke, die zu ihrem Baumhausbüro führte. Sie atmete die kühle, frische Luft ein. Sie roch Holzrauch, feuchte Blätter, die Äpfel, die in dem aufgegebenen Obstgarten an der östlichen Seite ihres Grundstücks auf dem Boden verrotteten. Es war ein perfekter Mitte-Oktober-Tag. Die knapp fünf Meter lange Hängebrücke schwankte leicht unter ihr, und sie ging zuerst langsam, mit Garten und Einfahrt unter sich und dem Arrow Lake in der Ferne. Charlies Brücke, nannte sie sie, obwohl Charlie nicht einmal wusste, dass sie existierte. Und sie hatte nie irgendjemandem den geheimen Namen der Brücke oder die Geschichte, die dahinter stand, verraten. Was würde sie sagen? Ich habe sie nach einem Jungen benannt, der mir einmal sagte, eine Brücke wie diese wäre nicht möglich.
    Das Telefon in ihrem Büro klingelte. Sie rannte die letzten paar Meter und war gefährlich nahe daran, den Espresso zu verschütten.
    Sie öffnete die Tür, die nie verschlossen war – die einzige Möglichkeit hineinzukommen war, die Brücke vom Inneren ihres Hauses aus zu überqueren oder acht Meter die Eiche hinaufzuklettern, um die das Büro gebaut worden war. Das Büro hatte einen Durchmesser von vier Metern und war kreisförmig, der Baumstamm befand sich im Zentrum und es gab Fenster auf allen Seiten. Len nannte es den »Kontrollturm«.
    Sie hatte einen Computertisch und einen Zeichentisch aus Holz. Da war eine kleine Pinnwand, auf die Notizen zu ihrem neuesten Projekt, eine Erinnerung, dass sie einen Kunden anrufen wollte, und ein Horoskopchart, das Len für sie angefertigt hatte, gepinnt waren. Sie hielt nichts von Durcheinander oder davon, an Dingen festzuhalten, die keine wirkliche Bedeutung hatten, daher enthielt ihr Bücherregal nur die Bücher, die sie immer wieder konsultierte, diejenigen, die sie beeinflusst hatten: Die Poesie des Raums, Eine Sprache der Muster, Die zeitlose Art des Bauens, Design mit der Natur, Notizen zur Synthese von Formen sowie eine kleine Sammlung von Naturführern. Hier und da zwischen den Büchern steckten Teile von Reggies anderer großer Inspirationsquelle: Vogelnester, Muscheln, Tannenzapfen, interessant geformte Steine, ein rundes Papierwespennest, Schoten der Papageienpflanze, Eicheln und Bucheckern.
    Reggie langte nach dem Telefon auf ihrem Schreibtisch, stolperte und spritzte heißen Espresso über ihre Hand.
    Mist! Warum beeilte sie sich so? Wen erwartete sie am anderen Ende der Leitung zu hören? Charlie? Nicht sehr wahrscheinlich. Das letzte Mal, dass sie miteinander gesprochen hatten, war gewesen, als sie zufällig im Lebensmittelladen zusammengestoßen waren, kurz bevor sie beide auf unterschiedlichen Highschools ihren Abschluss gemacht hatten. Tara vielleicht, um sie zu necken, ihr zu sagen, dass sie sechzig Sekunden hatte, um alles zusammenzutragen, was ihr wichtig war?
    Nein. Tatsächlich dachte sie, dass Er es wieder war.
    Sie hatte die Anrufe seit Jahren bekommen, zuerst zu Hause, dann im College, dann in jedem Apartment und Haus, in dem sie jemals gewohnt hatte. Er sagte nie ein Wort. Aber sie konnte ihn atmen hören, konnte beinahe spüren, wie ein Hauch von übelriechender Feuchtigkeit ihr gutes Ohr berührte, wenn er einatmete, dann ausatmete, jeder Atemzug verspottete sie, sagte: Ich weiß, wie ich dich finden kann. Und irgendwie wusste sie, sie wusste es einfach, dass es Neptun war. Und eines Tages könnte er tatsächlich den Mund aufmachen und sprechen. Sie erlaubte sich, es sich vorzustellen: wie seine Stimme wie Wasser durch das Telefon rauschte, sie überschwemmte, durch sie hindurchfloss. Vielleicht würde er ihr die eine Sache verraten, die sie immer hatte wissen wollen: Was er mit ihrer Mutter gemacht hatte, warum sie das einzige Opfer war,
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