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Der Funke des Chronos

Titel: Der Funke des Chronos
Autoren: Thomas Finn
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Einen Moment lang überlegte er ernsthaft, Foto, Tonträger und Kristallstab in den Mülleimer zu befördern. Doch schließlich siegte die Neugier. Noch einmal warf er einen Blick auf die Fotografie, dann wandte er sich dem Computer zu und bediente noch einmal das CD-Laufwerk. Auf dem Datenträger befanden sich keine Bilder, sondern eine Audiodatei. Wie seltsam. Zunächst war nur ein Rauschen zu hören, dann ein leises Klopfen, so als ob jemand gegen ein Mikrofon tippe. Dem Geräusch folgte ein schwerer Atemzug.
     
    »Hallo, Tobias!«
     
    Tobias richtete sich überrascht auf, als ihn der Unbekannte ansprach. Ohne Zweifel handelte es sich um die Stimme eines älteren Mannes.
     
    »Ein halbes Leben habe ich mich gefragt, wann wohl der beste Zeitpunkt dafür gekommen wäre, mit dir in Kontakt zu treten. Manchmal wünschte ich, ich hätte dies schon früher getan, aber leider war es mir nicht möglich. Nein, ich muss mich korrigieren, irgendwann wäre es schon gut möglich gewesen, aber da verließ mich der Mut. Denn wie hätte ich dir eine Geschichte erklären sollen, die für den einen von uns die Vergangenheit, für den anderen aber die Zukunft darstellt?«
     
    Wie bitte? Wovon sprach der Kerl? Tobias lauschte weiter der Stimme.
     
    »Ich war es, der dich damals vor dem Waisenhaus abgesetzt hat. Der Himmel allein weiß, wie gern ich mich um dich gekümmert hätte. Aber ich hatte keine Wahl. Weiß Gott nicht. Ich musste mich um mich selbst kümmern. Dich, mein Junge, hat das Schicksal mit gnädigem Vergessen bedacht. Mir hingegen hat es einen Alptraum beschert. Ich habe Jahre gebraucht, um zu lernen, zu begreifen und zu verstehen. Wie besessen suchte ich nach einer Lösung. Für mich. Für uns beide. Bei alledem bin ich zu einem alten Mann geworden.
     
    Als ich bemerkte, zu wem du heranwuchst, begriff ich, dass sich das Schicksal nicht betrügen lässt. Ich konnte schließlich nicht übersehen, was bereits geschehen war. Mehr noch. Ich erkannte im Lauf der Jahre, dass dir vorbehalten wäre, was ich mir all die Zeit über sehnlich gewünscht hatte. Einerseits beneide ich dich darum, andererseits …«
    Tobias hörte einen schweren Seufzer. Andererseits – was? Was sollte das irre Gefasel? Dennoch lief ihm eine Gänsehaut über den Rücken, als die Stimme fortfuhr.
    »Die schreckliche Wahrheit lautet, dass ich mich schon seit langem frage, ob wir unser Leben überhaupt selbst bestimmen. Ist nicht sogar das Morgen nur gelebte Vergangenheit? Vielleicht wirst du eines Tages die Antwort auf diese Frage finden.
    Der Inhalt des Päckchens, Tobias, ist der Schlüssel zu meinem Lebenswerk. Er wird dir eine Reise ermöglichen, die deine kühnsten Vorstellungen übertrifft. Ich händige ihn dir aus, weil ich schon jetzt weiß, dass du die Reise antreten wirst. Den Entschluss dazu musst du allerdings selbst fassen. Sicher denkst du, ich rede wirr. Daher möchte ich dir ein Rätsel aufgeben, um deine Neugier zu wecken. Du wirst noch feststellen, dass die Fragen nach dem Woher oder dem Warum ebenso entscheidend sind wie die nach dem Wann. Ich bitte dich also, mein Geschenk anzunehmen und damit ans Fenster deiner Wohnung zu treten. Umfasse mit beiden Händen die Elfenbeinkugel und konzentrier dich auf die Straße. Erschrick nicht, Tobias. Komm anschließend in die ABC-Straße Nr. 15. Ich erwarte dich dort und werde so gut wie möglich deine Fragen beantworten.«
     
    Mit diesen Worten endete die Aufnahme. Verwirrt starrte Tobias auf den Computer und überlegte, was er von alledem zu halten hatte. Erneut warf er einen Blick auf die altertümliche Fotografie. Das junge Mädchen war auffallend hübsch, mit schräg stehenden Wangenknochen, die von gedrehten Locken eingerahmt wurden. Sie lächelte. Seltsam, sie erinnerte ihn an jemanden. Eine Kommilitonin? Eine Spielkameradin aus Kindertagen? Müßig, sich darüber Gedanken zu machen. Das Bild schien aus dem letzten Jahrhundert zu stammen.
    Tobias drehte es um und war überrascht, als er auf der Rückseite wieder die ihm schon vertraute, krakelige Schrift entdeckte. Zwei Worte standen dort geschrieben.
    Nosce teipsum!
    Als Medizinstudent hatte er lange genug Latein gelernt, um den Sinnspruch ohne Mühe entziffern zu können. »Erkenne dich selbst!«
    Soweit er wusste, hatte der Spruch bereits als griechisches Epigraph über der berühmten Orakelstätte von Delphi gestanden. Das Ganze wurde immer kindischer. Er hatte keine Lust auf Rätselspiele.
    Kopfschüttelnd schob er das Foto in
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