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Der Funke des Chronos

Titel: Der Funke des Chronos
Autoren: Thomas Finn
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stellte es auf den Boden. Tobias half ihm dabei, das neue Ölgemälde anzubringen.
    Es zeigte eine aufwühlende Szene: einen Feuersturm, der über das alte Hamburg hinwegfegte. Noch immer leuchteten die Farben des Bilds in grellen Tönen. Tobias meinte, die Farben sogar riechen zu können, so als seien sie erst vor kurzem aufgetragen worden – eigenartig.
    Zwischen den brennenden Häusern waren Menschen zu erkennen, die verzweifelt versuchten, ihr Hab und Gut in Sicherheit zu bringen. Im Hintergrund zeichnete sich die Silhouette einer Kirche ab, aus der die Flammen hoch zum Himmel schlugen. Ihm schwindelte. Einen Moment lang glaubte Tobias, den Rauch zu schmecken und das Geschrei der Flüchtenden zu hören. Hastig trat er einen Schritt zurück.
    »Alles in Ordnung?« Der Fechtlehrer sah ihn besorgt an.
    »Ja.« Tobias schluckte und atmete tief ein. Was war nur mit ihm los? Die Szene schien ihm seltsam … vertraut. »Hamburg hat wohl schon einige Unglücke überstanden, wenn ich mir das so anschaue.«
    Gerresheimer betrachtete das Gemälde, so schien es, fast mit einem Anflug von Wehmut. »Tja, nichts ist von Bestand. Die Zeit ist wie ein mächtiger Puls. Glück und Unglück wechseln sich ab, und wir können nichts dagegen tun. Aber stets blüht neues Leben aus den Ruinen.«
    »Und welches Unglück ist hier dargestellt?«
    »Der Große Brand. Er brach am 5. Mai 1842 aus und wütete drei Tage lang. Er ist auch der Grund dafür, warum Hamburg heute keine Altstadt mehr hat. Das Feuer entzündete sich eines Nachts in einem Speicher an der Deichstraße. Ein Drittel der Stadtfläche wurde damals zerstört. Über tausend Fachwerkhäuser brannten ab, einundfünfzig Menschen kamen ums Leben und zwanzigtausend wurden obdachlos.« Gerresheimer räusperte sich. »Aber andererseits – wäre der Große Brand nicht gewesen, vielleicht hätte sich Hamburg dann nicht so schnell zu einer modernen Großstadt entwickelt.«
    »Weiß man, wer dafür verantwortlich war?« »Nein.« Gerresheimer trat wortlos zu seinem Werkzeugkasten und legte den Hammer zurück. Tobias schulterte die Sporttasche und wandte sich dem Ausgang zu. Er hatte das dringende Bedürfnis, frische Luft zu schnappen.
    »Wir sehen uns dann morgen wieder. Zur selben Zeit?« Gerresheimer, der sich samt Werkzeugkasten bereits zum Geräteraum aufgemacht hatte, blieb stehen.
    »Zur selben Zeit?« Zu Tobias Verwunderung lachte sein Fechtlehrer. »Nein, ich denke früher. Sogar sehr viel früher …«

 

Nosce teipsum!
     
    Hamburg 2006, 16. Dezember,
    11.31 Uhr
     
    T obias ließ die Tür seiner kleinen Einzimmerwohnung ins Schloss fallen und war froh, dem vorweihnachtlichen Treiben in Hamburgs Innenstadt entronnen zu sein. Überall versuchten Straßenhändler, Lebkuchen, Glühwein und Tannenbäume zu verkaufen. In den großen Geschäftsstraßen buhlten Heerscharen von Weihnachtsmännern um die Gunst von Müttern mit kleinen Kindern, und kaum eines der Geschäfte verzichtete auf die nervtötende Dauerüberflutung mit Weihnachtsmusik.
    Es war wie in jedem Jahr. Der Rummel erinnerte ihn daran, dass ihm schon bald wieder drei Tage bevorstünden, die er allein verbringen musste. Waisenhaus und Kirchengemeinde hatten ihm bereits Briefe zugestellt, in denen sie auf ihr buntes Festtagprogramm aufmerksam machten. Tobias aber hatte keine Lust auf dröges Gebäck und heimelige Liederabende. Für ihn hatte es bisher nur ein einziges schönes Weihnachten gegeben. Er hatte es im letzten Jahr zusammen mit Katja verbracht.
    Tobias warf Jacke und Sporttasche in eine Ecke, ließ sich missmutig vor seinem Computer nieder und fuhr diesen hoch. In der Hand hielt er eine CD. Dem Händler im Fotogeschäft war gelungen, was ihn als Laien an die Grenzen seiner technischen Fähigkeiten geführt hatte. Der Fachmann hatte die fehlerhafte Speicherkarte seiner Digitalkamera retten können und die verloren geglaubten Aufnahmen auf die Silberscheibe gebrannt.
    Mit starrem Blick lud er den Inhalt der CD auf den Monitor. Insgesamt waren es siebenundsechzig Fotos. Sie alle stammten noch aus der Zeit, als er mit Katja zusammen gewesen war. Tobias klickte sich durch die Bildergalerie. Katja war wirklich hübsch. Mit ihrem roten Haar und dem Pagenschnitt, den grünen Augen und der stets körperbetonten Kleidung war sie ein echter Blickfang. Tobias fand vergessene Aufnahmen aus dem letzten Jahr, von ihrem Urlaub in Thailand, Bilder von einer Studentenparty kurz nach ihrer Rückkehr und Aufnahmen von einem
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