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Der Funke des Chronos

Titel: Der Funke des Chronos
Autoren: Thomas Finn
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die Hosentasche und kehrte zum Bett zurück, wo noch immer der merkwürdige Kristallstab lag. Er überlegte eine Weile, bevor er ihn erneut ergriff. Damit sollte er zum Fenster gehen und sich auf die Straße konzentrieren? Nun gut.
    Tobias zog die Jalousien hoch und warf einen Blick nach draußen. Die Straße zwei Stockwerke unter ihm war nur mäßig belebt. Sie wurde von hohen Altbauten gesäumt, wie sie den Stadtteil Eimsbüttel nach wie vor prägten. Der Asphalt der Fahrbahn glänzte feucht von den Graupelschauern, die Hamburg in den letzten Tagen heimgesucht hatten. Ein gutes Dutzend Autos parkte auf den Gehwegen. Neben der Markise eines türkischen Gemüseladens stand eine junge Frau mit Kinderwagen. Nicht weit von ihr entfernt war ein Polizist damit beschäftigt, Parksünder aufzuschreiben. Und nun? Tobias umschloss die Elfenbeinkugel mit beiden Händen. Die Stimme hatte gesagt, er solle sich auf die Straße …
     
    Die Welt zerplatzte in einer Kaskade grellen Lichts. Tobias stöhnte. Irgendwo in seinem Hinterkopf pochte es, und ein bohrender Schmerz ließ ihn taumeln. Mit dem Schmerz kamen auch die Bilder.
    Er sah den Kinderwagen unbemerkt von der Mutter auf die Straße rollen.
    Er sah, wie ein rotes Auto in die Straße einbog.
    Er sah, wie der Polizist auf die Straße rannte.
    Er sah, wie der Fahrer zu bremsen versuchte und ins Schlingern geriet.
    Er sah, wie das rote Auto in eines der parkenden Fahrzeuge krachte.
    Ein lautes Scheppern rief Tobias zurück in die Wirklichkeit. Ohne es zu bemerken, war er quer durch das Zimmer getaumelt und gegen den Stapel mit schmutzigem Geschirr gestoßen, der nun als Scherbenhaufen zu seinen Füßen lag. Entsetzt rang er nach Atem und fasste sich an den schmerzenden Schädel. Der Kristallstab war ihm längst entglitten. Er entdeckte ihn auf dem Teppich vor dem Schreibtisch. So plötzlich, wie die Kopfschmerzen gekommen waren, vergingen sie wieder.
    In diesem Moment war unten vor dem Haus ein gedämpfter Schrei zu hören. Tobias rannte zurück zum Fenster und blickte erneut auf die Straße hinab. Zu seinem Entsetzen entdeckte er den Kinderwagen, der nun tatsächlich quer auf der Straße stand. Der Polizist, eben noch mit dem Aufschreiben von Parksündern beschäftigt gewesen, drängte sich zwischen den Autos hindurch und versuchte ein rotes Sportauto aufzuhalten, das viel zu schnell in die Straße eingebogen war. Der Fahrer riss im letzten Augenblick das Steuer herum, kam auf dem feuchten Untergrund ins Schlingern und krachte gegen eines der parkenden Fahrzeuge. Eine Alarmanlage schrillte los, und kurz darauf füllte sich die Straße mit Passanten.
    Tobias stieß einen Laut des Staunens aus und sah der jungen Mutter mit offenem Mund dabei zu, wie sie ihr Kind erleichtert aus dem Wagen hob.
    Ein Déjà-vu-Erlebnis? Ein Déjà-vu-Erlebnis.
    Ein Schauer lief ihm über den Rücken.
    Entgeistert wandte er sich zu dem Kristallstab auf dem Boden um. Für eine Weile war nur das leise Ticken seiner Küchenuhr zu hören. Dann fasste Tobias einen Entschluss. Er packte das unheimliche Ding, ging in die Küche und warf den Kristallstab in den Mülleimer.

 

Nickel & Blut
     
    Hamburg 2006, 16. Dezember,
    15.48 Uhr
     
    I m kalten Wind fröstelte Tobias trotz der warmen Lederjacke. Er wusste von der ABC-Straße mit ihren hohen Altbauten nur, dass sie zu den ältesten Straßen Hamburgs zählte. Ungeachtet des vorweihnachtlichen Trubels in der Stadt lag sie fast andachtsvoll ruhig vor ihm. Lediglich ein Mopedfahrer auf seinem knatternden Gefährt störte die Ruhe. Früher hatte man die Gebäude links und rechts der Fahrbahn tatsächlich alphabetisch durchnummeriert. Heute war das natürlich Geschichte, dennoch würde er die Straße eine Weile absuchen müssen, um die Adresse zu finden.
    Seufzend verzehrte Tobias die Reste eines Krapfens, den er auf dem weihnachtlich herausgeputzten Gänsemarkt gekauft hatte, und wischte sich die Krümel aus den Mundwinkeln. Eine dumme Angewohnheit von ihm. Immer brauchte er etwas Süßes, wenn er aufgeregt war.
    Eigentlich war er fest dazu entschlossen gewesen, der merkwürdigen Offerte gar nicht zu folgen. Er ärgerte sich über sich selbst. Warum verlor sich sein rätselbegeisterter Gönner auch in mysteriösen Andeutungen und schickte ihn auf eine Schnitzeljagd, statt ihm reinen Wein einzuschenken? Und doch ließ er sich auf das Spiel ein.
    Daheim hatte er lange mit sich gekämpft, den unheimlichen Kristallstab wieder aus dem Mülleimer zu fischen.
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