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Der Funke des Chronos

Titel: Der Funke des Chronos
Autoren: Thomas Finn
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abgesetzt, des bekanntesten Waisenstifts Hamburgs. Erinnern konnte er sich nicht an sie; ebenso wenig daran, woher er kam. Angeblich hatte er damals nicht einmal seinen Namen gewusst. Eine Amnesie, die die Ärzte einem Unfall mit der Folge eines Traumas zuschrieben. Auch sein Geburtstag war ihm unbekannt. Also feierte er ihn im Mai. Weil es da so schön warm war.
    Im Waisenhaus hatte man ihn lange Zeit Kaspar Hauser genannt. Getauft hatten ihn seine Betreuer allerdings auf den Namen Tobias.
    »Danke«, murmelte er.
    »Aber nicht doch«, winkte Frau Wachholz ab und hob den Dackel auf. »Mach ich doch gern. Also, wenn Sie Weihnachten allein sind, dann können Sie gern nach nebenan kommen. Sie sind ja schließlich Waise und haben niemanden.«
    Warum hatte er ihr das bloß erzählt?
    »Meine Tochter Manuela wird übrigens auch kommen«, flötete sie unbekümmert. Tobias’ Kopf ruckte alarmiert hoch. Um Gottes willen, nicht die!
    »Gerade neulich hat sie wieder nach Ihnen gefragt. Und natürlich auch nach Ihrer Freundin. Aber die ist ja jetzt schon länger nicht mehr hier gewesen, oder?«
    Die Bemerkung saß. Frau Wachholz gab es einfach nicht auf. Seit zwei Jahren schon versuchte sie ihn mit ihrer Vogelscheuche von Tochter zu verkuppeln. Wenn Tobias auch nur an sie dachte, war das jedes Mal so, als liefe ihm kaltes Wasser über den Rücken. Erneut versuchte er es mit einem Lächeln. Es zerfaserte.
    »Leider bin ich Heiligabend schon bei einem Freund«, log er wieder. Also doch Liederabend. Frau Wachholz würde sicher auffallen, wenn er zu Hause bliebe.
    »Wie schade. Sie können es sich ja noch mal überlegen. Stimmt’s, Punzel?« Sie strich ihrem Dackel über den Kopf, und zu Tobias’ Überraschung ließ der Hund ein leises Kläffen hören. Erstaunlich. Zum ersten Mal erlebte er, dass der Köter einen Mucks von sich gab. Tobias verabschiedete seine Nachbarin freundlich, schloss die Tür und atmete befreit auf.
    Gespannt hockte er sich auf sein Bett und beäugte das Paket. Zu gern hätte er gewusst, wer sein freundlicher Gönner war.
    Der Karton hatte eine gewisse Schwere. Vorsichtig schüttelte er ihn und hörte ein leises Rascheln. Was sich wohl darin befand? Ganz sicher war der Absender auch dieses Jahr falsch. Tobias hatte schon in den Vorjahren versucht, dem Urheber der Geschenke auf die Spur zu kommen. Jedes Mal erfolglos. Doch stets waren die Pakete auf einem Postamt in Hamburgs Innenstadt aufgegeben worden, was er bei der Post leicht hatte in Erfahrung bringen können.
    Nur, wo war der Poststempel? Verwundert stellte er fest, dass das Paket gar nicht freigemacht war. Hatte seine Nachbarin nicht erzählt, dass es von einem Postboten abgegeben worden war? Was war das für ein Briefträger, der unfrankierte Pakete austrug? Misstrauisch beäugte er den Karton genauer und bemerkte erst jetzt den krakeligen Schriftzug auf einer der Seiten: Bitte heute noch öffnen!
    Tobias nahm eine Schere und schnitt die Verpackung auf. Das Innere des Pakets war mit Styroporflocken angefüllt, in deren Mitte eingebettet eine längliche Schachtel lag. Tobias öffnete sie und starrte verwundert auf den Gegenstand in ihrem Innern. Es handelte sich um einen seltsamen, antiquiert wirkenden Stab, der etwa zwanzig Zentimeter lang war und die Dicke einer Kerze aufwies. Sicher war er nicht ohne Wert. Der Schaft bestand zur Gänze aus Glas oder geschliffenem Kristall. Das Licht der Fenster spiegelte sich darin. An einem Ende mündete der Kristallstab in einem Gewinde aus Silber, am anderen Ende lief er in einer hühnereigroßen, polierten Kugel aus Elfenbein aus.
    Was sollte das sein? Prüfend wog er das merkwürdige Ding in der Hand. Ungefähr so schwer wie ein kleiner Kürbis. Erst jetzt bemerkte er die filigranen Silberdrähte und feinen Kanülen, die die Kristallstange im Innern durchzogen.
    Tobias legte das Ding beiseite und fischte zwischen den Styroporflocken nach einem Hinweis, was er damit anfangen sollte. Auf dem Paketboden fand er einen braunen Briefumschlag. Aufgeregt riss er ihn auf, und sogleich rutschten ihm zwei Gegenstände in die Hände: die retuschierte Schwarzweißaufnahme eines hübschen Mädchens in einem altertümlichen Kleid, das vor einer künstlichen, antik wirkenden Landschaft porträtiert worden war – und eine CD, ähnlich jener, die ihm der Fotohändler mitgegeben hatte. Die Silberscheibe war mit derselben krakeligen Handschrift beschriftet wie das Paket.
    Bitte anhören. Danke.
    Verdammt, was sollte das alles?
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