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Der Fürst des Nebels

Der Fürst des Nebels

Titel: Der Fürst des Nebels
Autoren: Carlos Ruiz Zafón
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Gartentür, zog sie leise hinter sich zu und ging in den Nebel hinein, in Richtung Skulpturengarten.
    Der Weg durch den Nebel kam ihm weiter vor, als er vermutet hatte. Von seinem Zimmerfenster aus schien der Platz mit der Steinmauer etwa hundert Meter vom Haus entfernt zu sein. Doch während Max durch die wilden Gräser lief, meinte er, mehr als dreihundert Meter zurückgelegt zu haben, bis aus dem Dunst endlich das Gittertor des Skulpturengartens auftauchte.
    Eine rostige Kette wand sich um die Eisenstangen aus schwarzem Metall. Sie war durch ein altes Vorhängeschloß verriegelt, das mit der Zeit eine matte Farbe angenommen hatte. Max lehnte sein Gesicht gegen die Gitterstäbe des Tors und betrachtete das Innere. Das Gestrüpp hatte den Ort im Laufe der Jahre in Besitz genommen und verlieh ihm das Aussehen eines verlassenen Gewächshauses. Wahrscheinlich hatte schon lange niemand mehr einen Fuß auf diesen Boden gesetzt, und derjenige, der sich früher einmal um den Skulpturengarten gekümmert haben mochte, war wohl schon vor vielen Jahren verschwunden.
    Max schaute sich um und fand einen Stein in der Größe seiner Hand neben der Gartenmauer. Er nahm ihn und schlug mehrmals kräftig auf das Vorhängeschloß, das die Enden der Kette verband, bis der alte Ring unter den Stößen des Steins nachgab. Die Kette sprang auf und schaukelte über den Eisenstangen wie die Zöpfe einer metallenen Perücke. Max drückte mit aller Kraft gegen die Gitterstäbe und spürte, wie sie schwerfällig zurückwichen. Als die Öffnung zwischen den beiden Torflügeln breit genug war, um ihn durchzulassen, hielt Max eine Sekunde lang inne und betrat dann den Garten.
    Kaum im Inneren, bemerkte Max, daß der Garten größer war, als er zunächst angenommen hatte. Auf den ersten Blick hätte er schwören können, daß etwa zwanzig Skulpturen zwischen den Pflanzen halb verborgen waren. Er ging ein paar Schritte weiter, in den verwilderten Garten hinein. Offensichtlich waren die Figuren in konzentrischen Kreisen aufgestellt, und sie schauten alle nach Westen. Die Skulpturen schienen fest zusammenzugehören und stellten eine Art Zirkustruppe dar. Während Max zwischen ihnen umherging, entdeckte er einen Dompteur, einen Fakir mit Turban und Adlernase, eine Schlangenfrau, einen Muskelmann und eine ganze Reihe von weiteren Figuren, die aus einem gespenstischen Zirkus entlaufen zu sein schienen.
    Im Mittelpunkt des Skulpturengartens ruhte auf einem Sockel eine große Figur, die einen lächelnden Clown mit borstigen Haaren darstellte. Er hielt den Arm ausgestreckt, und seine Faust, die in einem unverhältnismäßig großen Handschuh steckte, schien nach einem unsichtbaren Gegenstand in der Luft zu schlagen. Zu seinen Füßen sah Max eine große Steinplatte, auf der, halb verborgen unter dem Pflanzenbewuchs, eine Reliefzeichnung zu erkennen war. Er kniete nieder und entfernte das Gestrüpp, das die kalte Oberfläche des Steins bedeckte. Darunter entdeckte er einen großen Stern mit sieben Enden, der von einem Kreis umgeben war. Max erkannte das Symbol wieder. Es war das gleiche, das auch über
    den Gitterstäben des Tores angebracht war.
    Während er den Stern eingehend betrachtete, begriff Max: Die Statuen waren nicht, wie er zunächst vermutet hatte, in konzentrischen Kreisen angeordnet, sie bildeten vielmehr die siebenendige Sternenfigur nach. Jede der Figuren im Garten stand auf einem der Schnittpunkte der Linien, die den Stern bildeten. Max richtete sich auf und betrachtete die gespenstische Szenerie um sich herum. Er ließ seinen Blick über die einzelnen Statuen schweifen. Sie waren überwuchert von den Trieben wilder Pflanzen, die sich im Wind hin und her bewegten. Bei dem großen Clown hielt Max erneut inne. Ein Schauder lief ihm über den Körper, und er wich einen Schritt zurück. Die Hand der Steinfigur, die er wenige Augenblicke zuvor noch zur Faust geballt gesehen hatte, war nun offen, die Handfläche war ausgestreckt wie zu einer einladenden Geste. Die kalte Morgenluft brannte Max in der Kehle, und er konnte sein Herzklopfen in den Schläfen spüren.
    Ganz langsam, als fürchte er, die Skulpturen aus ihrem ewigen Schlaf zu wecken, ging er den Weg zurück bis zum Gittertor des Gartens, nicht ohne sich bei jedem Schritt, den er machte, nach hinten umzusehen. Als er endlich beim Tor war, schien ihm das Haus am Strand sehr weit entfernt zu liegen. Ohne weiter darüber nachzudenken, rannte er los, und diesmal schaute er sich nicht um, bis
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