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Der Fürst des Nebels

Der Fürst des Nebels

Titel: Der Fürst des Nebels
Autoren: Carlos Ruiz Zafón
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Victor Kray war der letzte der Reisenden, der noch auf dem Bahnsteig stand. Der Schaffner wartete an der Wagentür. »Ich muß gehen, Max«, sagte der Alte. Max umarmte ihn heftig, und Victor Kray schlang seine Arme um ihn.
»Ach ja, ich habe etwas für dich.«
Max nahm eine kleine Schachtel aus den Händen des Leuchtturmwärters entgegen. Max schüttelte sie ein wenig; es klapperte in ihrem Inneren.
»Willst du sie nicht aufmachen?« fragte der Alte. »Erst, wenn Sie fort sind«, erwiderte Max. Der Leuchtturmwärter zuckte mit den Schultern. Er ging auf den Eisenbahnwagen zu, und der Schaffner reichte ihm die Hand, um ihm beim Einsteigen zu helfen. Als er auf der letzten Stufe war, rannte Max auf einmal zu ihm hin.
»Señor Kray!« schrie Max.
Der Alte drehte sich um und schaute ihn an, mit vergnügter Miene.
»Ich bin sehr froh, daß ich Sie kennenlernen durfte, Señor Kray«, sagte Max.
Victor Kray lächelte ihn ein letztes Mal an und tippte sich mit dem Zeigefinger an die Brust. »Mir geht es genauso, Max«, erwiderte er. »Ich freue mich auch.«
Langsam fuhr der Zug an, und seine Dampfspur verlor sich in der Ferne. Max blieb auf dem Bahnsteig stehen, bis er den Punkt am Horizont nicht mehr erkennen konnte. Erst dann öffnete er die Schachtel, die der Alte ihm gegeben hatte. Ein Schlüsselbund lag darin. Max lächelte. Es waren die Schlüssel zum Leuchtturm.

Epilog
    D ie letzten Wochen des Sommers brachten neue Nachrichten vom Krieg, dessen Tage nun, wie alle sagten, gezählt waren. Maximilian Carver hatte seine Uhrmacherwerkstatt in einem kleinen Laden nahe beim Kirchplatz eröffnet, und nach kurzer Zeit gab es kaum einen Dorfbewohner, der den kleinen Wunderbazar von Max' Vater noch nicht besucht hatte. Irina hatte sich vollständig erholt und schien sich nicht mehr an den Unfall zu erinnern, den sie auf der Treppe des Hauses am Strand erlitten hatte. Sie und ihre Mutter machten oft lange Spaziergänge am Meer entlang und suchten Muscheln und kleine Versteinerungen für Irinas Sammlung, die im Herbst, wenn die Schule anfing, bestimmt der Neid ihrer neuen Klassenkameraden sein würde.
    Max erfüllte treu das Vermächtnis des alten Leuchtturmwärters. Er fuhr jeden Abend mit seinem Fahrrad zum Leuchtturm und entzündete den Lichtstrahl, der den Schiffen bis zum Anbruch des nächsten Tages den Weg weisen sollte. Von der Warte des Leuchtturms aus blickte er über den Ozean, genau wie es Victor Kray fast sein ganzes Leben lang getan hatte.
    Während einer dieser Spätnachmittage auf dem Leuchtturm sah Max seine Schwester Alicia an den Strand zurückkehren, wo einst Rolands Hütte gestanden hatte. Allein setzte sie sich ans Meeresufer und ließ ihren Blick stundenlang über das Wasser schweifen.
    Alicia und Max sprachen nie mehr so vertraut miteinander, wie sie es während der Tage getan hatten, die sie mit Roland verbracht hatten, und Alicia redete nie über die Vorfälle jener Nacht in der Bucht. Max hatte ihr Schweigen vom ersten Tag an respektiert. Als der September zu Ende ging und der Herbst anbrach, schien die Erinnerung an den Fürsten des Nebels endgültig aus seinem Gedächtnis verschwunden zu sein, so wie ein Traum bei Tageslicht in Vergessenheit gerät.
    Doch wenn Max seine Schwester Alicia unten am Strand sitzen sah, erinnerte er sich oft daran, wie Roland ihm von seiner Angst erzählt hatte, daß dies sein letzter Sommer im Dorf sein könnte, falls er im Herbst zum Militär eingezogen werden würde. Obwohl die Geschwister kein Wort darüber wechselten, wußte Max, daß die Erinnerung an Roland und an jenen Sommer, in dem sie gemeinsam die Magie entdeckt hatten, ihnen bleiben und sie für immer verbinden würde.
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