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Der Fürst des Nebels

Der Fürst des Nebels

Titel: Der Fürst des Nebels
Autoren: Carlos Ruiz Zafón
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ihm entfernt, und beim Anblick der Schiffswand aus Stahl, die in weißglühendes Licht getaucht war, begriff er, daß er es nicht schaffen würde, hoch auf das Deck zu klettern. Der einzige gangbare Weg war der Riß, den die Felsen in den Schiffsrumpf geschlagen hatten und der vor genau fünfundzwanzig Jahren den Untergang des Schiffes verursacht hatte. Dieser Riß befand sich ungefähr in Höhe der Wasserlinie, bei jedem Wellenschlag der Brandung tauchte er hoch und fiel dann wieder unter Wasser. Die Metallfetzen des Rumpfes, die das schwarze Loch umrahmten, sahen wie die Fänge eines großen Meeresungeheuers aus. Allein der Gedanke daran, in diese Falltür einzudringen, versetzte Roland in Schrecken, aber es war seine einzige Chance, zu Alicia zu gelangen. Er bemühte sich, nicht durch die nächste Welle fortgeschwemmt zu werden, und sobald der Wellenkamm über ihn hinweggegangen war, stürzte er sich auf das Loch im Schiffsrumpf und drang wie ein menschlicher Torpedo hinein in die Finsternis.
    Victor Kray hastete atemlos durch die wilden Gräser, die zwischen der Bucht und dem Weg zum Leuchtturm wuchsen. Der Regen und der Wind peitschten ihm heftig entgegen und bremsten seinen Schritt wie unsichtbare Hände, die hartnäckig darauf bestanden, ihn von diesem Ort zu verjagen. Als er endlich am Strand ankam, erhob sich die Orpheus mitten in der Bucht und fuhr in direkter Linie auf die Felsküste zu, eingehüllt in eine Aura aus übernatürlichem Licht. Der Bug des Schiffes brach durch die Brandung, die über das Deck spülte und bei jedem neuen Stoß des Meeres eine Wolke aus weißer Gischt aufwirbelte. Eine Woge von Verzweiflung überkam ihn: Seine schlimmsten Befürchtungen waren wahr geworden, er war gescheitert. Die Jahre hatten seinen Geist geschwächt, und der Fürst des Nebels hatte ihn wieder einmal getäuscht. Er flehte den Himmel darum an, daß es nicht schon zu spät war, um Roland vor dem Schicksal zu bewahren, das der Magier für ihn vorgesehen hatte. Victor Kray hätte gerne sein Leben dafür gegeben, Roland zu retten, doch eine dunkle Vorahnung ließ ihn vermuten, daß er das Versprechen, das er der Mutter des Kindes gegeben hatte, nicht würde halten können.
    Er näherte sich Rolands Hütte in der vagen Hoffnung, ihn dort anzutreffen. Es war keine Spur zu sehen von Max und auch nicht von dem Mädchen, und beim Anblick der herausgerissenen Tür auf dem Strand machte sich Victor Kray auf das Schlimmste gefaßt. Doch als er feststellte, daß im Inneren der Hütte ein Licht brannte, entzündete sich ein Funken Hoffnung in ihm. Der Leuchtturmwärter lief eilig zum Eingang, während er Rolands Namen schrie. Da trat die Figur eines Messerwerfers aus bleichem, lebendigem Stein aus der Hütte, um ihn zu empfangen.
    »Es ist ein wenig spät zum Jammern, Großvater«, sagte die Figur, und schaudernd erkannte der Alte Cains Stimme.
    Victor Kray wich einen Schritt zurück, aber es stand jemand hinter seinem Rücken, und bevor er reagieren konnte, spürte er einen kurzen Schlag im Genick. Dann wurde es finster um ihn herum. Max sah Roland durch das Loch in der Schiffswand in den Rumpf der Orpheus eindringen, und er fühlte, wie seine eigenen Kräfte mit jedem neuen Wellenschlag schwächer wurden. Er war kein guter Schwimmer, nicht im entferntesten so gut wie Roland, und inmitten dieses Unwetters würde er sich bald nicht mehr über Wasser halten können. Er mußte einen Weg finden, an Bord des Schiffes zu gelangen, und zwar schnell. Andererseits wurde ihm mit jeder Minute, die verstrich, immer klarer, daß die größte Gefahr von allen im Inneren des Schiffes auf sie wartete. Der Magier lockte sie in seinen Bereich wie Fliegen zum Honig.
    Plötzlich hörte Max einen ohrenbetäubenden Lärm und sah, wie eine riesige Wasserwand sich hinter der Orpheus erhob und mit großer Geschwindigkeit auf das Schiff zuraste. Der Aufprall der Welle riß das Boot in Richtung Felsküste mit, und der Bug fraß sich in die Felsen hinein, was auf dem ganzen Schiffskörper eine gewaltige Erschütterung hervorrief. Der Mast, der die Verkehrslichter der Kommandobrücke trug, stürzte längsschiffs ins Meer, und seine Spitze landete einige Meter von Max entfernt im Wasser.
    Max schwamm mühsam dorthin, klammerte sich an den Mast und ruhte sich einige Sekunden lang aus, um wieder zu Atem zu kommen. Als er den Blick hob, sah er, daß der umgestürzte Mast eine Art Brücke spannte von ihm bis zum Deck des Schiffes. Bevor eine neue Welle ihn
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