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Der Fürst des Nebels

Der Fürst des Nebels

Titel: Der Fürst des Nebels
Autoren: Carlos Ruiz Zafón
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Uhrmacher grinste breit und reichte ihm das dicke Buch.
»Nimm. Es gehört dir. Lies es.«
Max betrachtete das geheimnisvolle, in Leder gebundene Buch. Es schien tausend Jahre alt zu sein und die Seele irgendeines uralten Geistes zu beherbergen, der durch einen ewigen Zauber an seine Seiten gefesselt war.
»Nun gut«, unterbrach ihn sein Vater, »wer weckt deine Schwestern?«
Ohne den Blick von dem Buch zu wenden, gab Max ihm mit dem Kopf ein Zeichen, daß er es ihm überlassen würde, Alicia und Irina, seine beiden Schwestern, die fünfzehn und acht Jahre alt waren, aus ihrem tiefen Schlaf zu reißen.
Während sein Vater sich anschickte, die anderen zu wecken, machte Max es sich auf dem Lehnstuhl bequem, schlug das Buch weit auf und begann zu lesen. Eine Stunde später überschritt die Familie zum letzten Mal die Schwelle ihres alten Hauses, hin zu einem neuen Leben. Der Sommer hatte begonnen.
    Max hatte einmal in einem der Bücher seines Vaters gelesen, daß bestimmte Bilder aus der Kindheit im Album der Seele eingeprägt bleiben wie Fotografien. Man erinnert sich immer wieder an sie, ganz gleich wieviel Zeit vergeht. Max begriff die Bedeutung dieser Worte, als er zum ersten Mal das Meer sah. Sie hatten schon mehr als fünf Stunden im Zug verbracht, als sich beim Auftauchen aus einem dunklen Tunnel plötzlich eine unendliche Flache aus Licht und Helligkeit vor seinen Augen ausbreitete. Das elektrische Blau des Meeres, das unter der Mittagssonne glänzte, prägte sich in seine Netzhaut ein wie eine übernatürliche Erscheinung. Während der Zug nur wenige Meter vom Meer entfernt seinen Weg fortsetzte, streckte Max den Kopf zum Fenster hinaus und spürte zum ersten Mal diesen unvergleichlichen Wind voller Meersalz auf seiner Haut. Er drehte sich nach seinem Vater um, der ihn vom äußersten Winkel des Zugabteils aus beobachtete. In dessen Gesicht lag ein geheimnisvolles Lächeln, das eine Frage zu bejahen schien, die Max gar nicht gestellt hatte. Da wußte er, daß er, egal welches Ziel diese Reise auch haben mochte, von diesem Tag an nie mehr an einem Ort leben würde, von dem aus man nicht jeden Morgen beim Aufwachen dieses blaue und blendende Licht sehen konnte, das zum Himmel aufstieg wie magischer Dunst. Das war ein Versprechen, das er sich selbst gegeben hatte.
    Während Max vom Bahnsteig des Dorfbahnhofs aus zusah, wie die Eisenbahn davonfuhr, ließ Maximilian Carver seine Familie einige Minuten lang allein bei dem Gepäck stehen. Er wollte einheimische Träger suchen, die zu einem vernünftigen Preis die Gepäckstücke zu ihrem Bestimmungsort bringen würden. Max blickte sich um und musterte eingehend den Bahnhof und die nahen Häuser, deren Dächer ängstlich zwischen den sie umgebenden Bäumen hervorschauten. Der Ort kam ihm vor wie ein Spielzeugmodell, wie eines dieser Miniaturdörfer, die von Liebhabern elektrischer Eisenbahnen gebaut wurden. Wer weiß, dachte er, wenn man sich allzuweit vorwagte in diesem Dorf, würde man vielleicht sogar vom Tisch fallen. Dieser Gedanke brachte Max auf eine interessante Variation von Kopernikus' Theorie über die Welt, doch die Stimme seiner Mutter riß ihn aus seinen kosmischen Träumereien.
    »Und? Hat der Ort bei dir bestanden, oder ist er durchgefallen?«
»Das wird sich noch zeigen«, erwiderte Max. »Er sieht aus wie ein Spielzeugmodell. Wie die in den Schaufenstern von den Spielwarenläden.«
»Vielleicht ist er eins«, sagte seine Mutter lächelnd. »Aber sag das nicht deinem Vater«, fuhr sie fort, »da kommt er.«
Maximilian Carver kehrte zurück, begleitet von zwei stämmigen Trägern, deren Kleidung bedeckt war mit Schmiere und Ruß und mit anderen undefinierbaren Flecken. Beide trugen buschige Schnurrbärte und Seefahrerkappen; es sah fast so aus, als wäre das ihre Berufsuniform.
»Das sind Robin und Philipp«, erklärte der Uhrmacher. »Die beiden werden unsere Koffer transportieren. Einverstanden?«
Ohne die Zustimmung der Familie abzuwarten, steuerten die beiden Muskelprotze auf den Berg von Koffern zu und luden sich eins nach dem anderen auch die sperrigsten Dinge auf, ohne das kleinste Anzeichen von Anstrengung. Max zog seine Uhr hervor und betrachtete das Zifferblatt mit den lächelnden Monden. Die Zeiger seiner Uhr deuteten auf zwei Uhr Nachmittag. Die alte Bahnhofsuhr dagegen zeigte zwölf Uhr dreißig, »Die Bahnhofsuhr geht falsch«, murmelte Max.
»Siehst du«, erwiderte sein Vater in Hochstimmung. »Kaum angekommen, und schon haben wir
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