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Der Fürst des Nebels

Der Fürst des Nebels

Titel: Der Fürst des Nebels
Autoren: Carlos Ruiz Zafón
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nicht kaputt. Sie funktionierte sehr gut, mit einer einzigen Besonderheit: Sie ging rückwärts.
Kapitel 2
    D as neue Haus der Carvers lag im äußersten Norden eines langen Strandes, der sich wie eine leuchtende weiße Platte aus Sand vor dem Meer ausbreitete, mit Büscheln aus wilden Gräsern, die sich im Wind hin und her bewegten. Der Strand schloß sich direkt an das Dorf an, das aus kleinen Holzhäusern mit nicht mehr als zwei Stockwerken bestand. Die meisten der Häuser waren in zarten Pastelltönen gestrichen, sie hatten Gärten und waren von hübschen, in gerader Linie aufgestellten weißen Zäunen umgeben. All das verstärkte noch den Eindruck, den Max kurz nach seiner Ankunft gehabt hatte: Der Ort wirkte tatsächlich, als bestünde er aus Puppenhäusern. Auf ihrem Weg durchquerten sie das Dorf, die breite, baumbestandene Hauptstraße und kamen am Rathausplatz vorbei. Mit der Begeisterung eines einheimischen Fremdenführers wies Maximilian Carver sie auf die wunderbaren Schönheiten des Dorfes hin.
    Der Ort war ruhig und von der gleichen Helligkeit erfüllt, die Max verzaubert hatte, als er auf dem Weg hierher zum ersten Mal das Meer gesehen hatte. Die meisten der Dorfbewohner schienen für ihre täglichen Geschäfte das Fahrrad zu benutzen oder gingen einfach zu Fuß. Die Straßen waren sauber, und abgesehen von dem einen oder anderen Motorfahrzeug war das einzige Geräusch, das man hörte, das sanfte Rauschen des Meeres, das sich auf dem Strand brach. Während sie das Dorf durchquerten, musterte Max insgeheim die anderen Familienmitglieder. Ihre Gesichter spiegelten die Gedanken wider, die der Anblick ihres neuen Zuhauses in ihnen hervorrief. Die kleine Irina und ihre Verbündete, die Katze, sahen sich die ordentliche Folge von Straßen und Häusern mit heiterer Neugier an, als fühlten sie sich schon ganz daheim. Alicia war in unergründliche Gedanken vertieft. Sie schien Tausende von Kilometern weit weg zu sein, und Max hatte wieder einmal das Gefühl, wenig oder gar nichts über seine ältere Schwester zu wissen. Seine Mutter sah sich das Dorf mit resigniertem Einverständnis an und lächelte dabei gezwungen, um die Unruhe zu verbergen, die sie aus irgendeinem Grund, den Max nicht erahnen konnte, belastete. Maximilian Carver schließlich betrachtete seinen neuen Lebensraum triumphierend und warf jedem der Familienmitglieder begeisterte Blicke zu, die mit zustimmendem Lächeln erwidert wurden. Die anderen waren sich anscheinend einig darüber, daß alles andere das Herz des Uhrmachers brechen könnte, denn er war davon überzeugt, seine Familie in ein neues Paradies gebracht zu haben.
    Beim Anblick dieser Straßen, die in Licht und Ruhe getaucht waren, hatte Max den Eindruck, das Phantom des Krieges sei hier tatsächlich fern, es kam ihm geradezu unwirklich vor. Vielleicht hatte sein Vater eine geniale Eingebung gehabt, als er beschloß, an diesen Ort zu ziehen. Als die Lieferwagen in den Weg einbogen, der zu ihrem Haus am Strand führte, hatte Max die Bahnhofsuhr schon vergessen, und auch die Beunruhigung, die Irinas neuer Gefährte in ihm geweckt hatte. Er blickte zum Horizont und glaubte, die Silhouette eines Schiffes zu erkennen, schwarz und scharf geschnitten. Es segelte wie eine Luftspiegelung durch den Dunst, der die Meeresoberfläche trübte. Sekunden später war es verschwunden.
    Das zweistöckige Haus stand etwa fünfhundert Meter von der Strandlinie entfernt und war von einem bescheidenen Garten umgeben. Der weiße Zaun, der ihn eingrenzte, brauchte dringend einen neuen Anstrich. Das Haus war aus Holz gebaut und bis auf das dunkle Dach ganz weiß gestrichen, und wenn man die Nähe des Meeres berücksichtigte und die Tatsache, daß es tagtäglich dem feuchten und salzigen Wind ausgesetzt war, schien es in einem recht guten Zustand zu sein.
    Auf dem Weg hatte Maximilian Carver seiner Familie die Geschichte des Hauses erzählt. Es war 1927 von einem angesehenen Londoner Chirurgen, Dr. Richard Fleischmann, erbaut worden und diente ihm und seiner Frau, Eva Gray, als Sommerresidenz am Meer. Das bestens ausgestattete Haus hatte seinerzeit in den Augen der Dorfbewohner als extravagante Verrücktheit gegolten. Die Fleischmanns hatten keine Kinder, sie schienen einsam zu sein und waren offenbar wenig interessiert am Umgang mit den Leuten aus dem Dorf. Bei seinem ersten Besuch hatte Dr. Fleischmann ausdrücklich angeordnet, daß sämtliche Baumaterialien für das Haus und auch die Arbeitskräfte aus
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