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Der fremde Tote

Der fremde Tote

Titel: Der fremde Tote
Autoren: Agnes Jäggi
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übrigens auch mit den anderen Ausgestossenen verfahren.“
    „Was für einen Unfall hatte Julius eigentlich?“, wollte Korbi wissen.
    Mathilde schwieg. Und dann: „Ich weiss nicht, ob ich darüber sprechen soll.“
    „Er wurde ermordet!“, dröhnte Robert Sanders Stimme durch die Nacht. „Es war jemand, der die Kinder vor ihm schützen wollte.“
    „Etwa seine Frau?“, forschte Korbi weiter.
    „Vielleicht ja – vielleicht nein“, entgegnete Mathilde vage. „Ihr braucht das nicht zu wissen. Wer immer es getan hat, dessen Strafe wird wohl milde ausfallen. Und im Reich der Lebenden, da war es ein Unfall. Und dabei wird es auch bleiben.“

    Korbi und ich erahnten an diesem Abend etwas Wichtiges in Bezug auf die Toten: Sie richteten die Ausgestossenen nicht, und sie straften auch nicht. Es ging einzig darum, Verzeihung und Erlösung zu erlangen. Der Grund, weshalb die Ausgestossenen nicht mit den übrigen Friedhofsbewohnern verkehrten, war der, dass sie ganz einfach keine Zeit dafür hatten. Sie mussten an sich arbeiten, sich für ihre Lektionen vor der höchsten Instanz – also vermutlich vor Gott – vorbereiten.

    Mir gingen auf der Heimfahrt viele Dinge durch den Kopf. Ich war müde, aber auch traurig. Auf Korbis Drängen hin verriet ich ihm, worüber ich nachdachte: „Warum gibt es Menschen, die die Veranlagung zum Verbrechen in sich tragen oder anders gesagt, warum tragen nicht alle diesen bösen Kern in sich – oder keiner? Ich meine, keiner sucht sich doch freiwillig aus, ein Vergewaltiger oder ein Mörder zu werden.“
    Korbi nickte nachdenklich: „Diese Fragen gehören wohl zu den Mysterien unserer Existenz. Gut und Böse, die uralte Geschichte. Vielleicht haben wir ja alle Angst davor, eines Tages, verursacht durch einen Schaden in unseren Genen oder im Gehirn – wie auch immer – die Kontrolle über uns zu verlieren. Deshalb denken wir auch nicht gerne über Menschen wie zum Beispiel Julius und seinen Vater nach. Wir verdrängen solche Dinge, weil sie uns ängstigen, weil wir sie nicht verstehen können.“
    Wahrscheinlich hatte Korbi recht. Ich hatte mir auch schon oft überlegt, wie das wohl wäre, wenn ich aus heiterem Himmel wahnsinnig werden und ich zum Beispiel morden würde. Was für eine schreckliche Vorstellung: Jede und jeder konnte im Prinzip eine lebende Zeitbombe sein!

    Korbi setzte mich vor meinem Wohnblock ab, drückte mir einen Kuss auf die Wange und versprach, mich in einigen Stunden mit einem feinen späten Frühstück zu beglücken. Ich putzte mir schnell die Zähne, fuhr durch mein widerspenstiges rotgelocktes Haar und kroch unter die weiche Decke, welche schon ein wenig von der schlafenden Frani vorgewärmt war. Sie schlief tief. Als ich ihr zärtlich übers Fell strich, öffnete sie kurz die Augen, seufzte behaglich und begann zu schnurren.

15. Mary Pickford besucht die Diva
     

    Elsie Anderson, von der Truppe liebevoll die Diva genannt, machte sich fürs Bett zurecht. Sie sass an ihrem zierlichen Schminktisch mit dem grossen Spiegel und fuhr sich verträumt mit der Bürste über ihr langes weiches Haar. Jetzt war es schwarz gefärbt mit einigen weissen Strähnen drin. Früher einmal war ihr Haar kastanienfarben gewesen. Elsie würde in wenigen Wochen achtzig Jahre alt werden, doch daran dachte sie jetzt nicht. Sie legte die Bürste beiseite, nahm sich eines der unzähligen Döschen vom Tisch und tupfte sich die Crème vorsichtig ins Gesicht und an den Hals. Noch immer war sie eine bemerkenswert schöne Frau mit nur wenigen Falten im Gesicht. Doch jetzt, in diesem Moment, da war sie 22 Jahre alt. Gerade hatte sie ihren ersten bedeutenden Film gedreht. Sie spielte eine grössere Nebenrolle an der Seite von James Stewart und Ingrid Bergmann. Sie war jung, schön, und vor ihr lag eine traumhafte Karriere. Während Elsie in ihren Erinnerungen schwelgte, sich an jede einzelne Filmrolle erinnerte und natürlich an ihre Partner, veränderte sich etwas im geschmackvoll eingerichteten Zimmer der Diva. Sie spürte erst nach einiger Zeit den kühlen Hauch. Verwundert drehte sich Elsie zum Fenster um. Sie hatte es doch gerade geschlossen. Jetzt war es offen und die feine weisse Gardine wehte sacht im leichten Wind. Schnell erhob sich Elsie, um das Fenster zu schliessen. In ihrem Alter konnte diese Kälte ihr den Tod bringen. Sie war wieder in der Gegenwart. Doch was war das? Ein Schatten bewegte sich über ihrem breiten blauen Himmelbett. Aus dem silbernen Nebel schälte sich
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