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Der fremde Tote

Der fremde Tote

Titel: Der fremde Tote
Autoren: Agnes Jäggi
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ihren Lieblingsgerichten.
    Etwa in der dritten Nacht, das Fieber war wieder ziemlich gestiegen, hatte ich einen Alptraum. Ich stand vor dem Haus einer ehemaligen Nachbarin im Dorf. Sie streckte ihren Kopf aus dem Fenster und forderte mich freundlich auf, im Estrich nach weiteren Büchern zu suchen.
    Das Dachgeschoss dieser alten Dame war für mich eine wahre Schatzgrube gewesen als junges Mädchen. Voll mit Büchern: Klassiker, Krimis, Liebes- und Historien-Romane. Oft verbrachte ich Stunden in diesem Bücherreich.
    Bis zu jenem Tag, als Julius, der Sohn der Nachbarin, heimkehrte. Es hiess im Dorf, er habe drei Jahre auf See verbracht. In Wirklichkeit aber war er im Gefängnis gewesen. Ich glaube, die meisten Erwachsenen waren im Bilde. Offiziell aber redete man nicht über Vergewaltigung, Pädophilie und dergleichen. Ausserdem wollte auch niemand die alte Frau, seine Mutter, quälen. Sie war eine einfache und herzensgute Dame. Was konnte sie denn für die Veranlagung ihres Sohnes? Man konnte sich natürlich fragen, ob nicht allen – inklusive Julius – eher geholfen gewesen wäre, wenn er rechtzeitig therapiert worden wäre. Aber eben, es waren andere Zeiten gewesen.
    In meinem Traum sass ich auf dem Dachboden, wo ich fein säuberlich Ben Hur, Quo Vadis und einige andere historische Romane neben einer Reihe Jerry Cotton Krimis aufgereiht hatte. Meine Mutter mochte nicht, dass ich diese Krimis las. Ich musste die dünnen Hefte stets zwischen Büchern verstecken, die meiner Mutter genehm waren. Ein Schatten fiel über mich. Ein Mann stand da. Ich kannte ihn. Wusste, was er wollte. Er lächelte und nestelte an seiner Hose herum. Ich fuhr hoch, wollte an ihm vorbei, doch er hielt mich mit einem Arm fest. Ich schrie, und dann war mein Papa da. Er schlug Julius, drohte ihm mit der Polizei, doch der ekelhafte Mann lachte ihn aus. Mein Vater nahm mich bei der Hand. Wir gingen zu Julius’ armer Mutter ins Wohnzimmer. Sie weinte verzweifelt, und Papa versprach ihr deshalb, die Polizei nicht anzurufen. „Aber die Kinder kommen nicht mehr in dieses Haus!“, verfügte Vater bestimmt.
    Ich erwachte schweissgebadet, fühlte mich schmutzig und schleppte mich mit wackeligen Beinen ins Badezimmer. Dort setzte ich mich in die Wanne und liess das Wasser einfach auf mich niederprasseln. Mir wurde klar, dass ich so bald wie möglich wieder den Ernheimer Friedhof aufsuchen musste. Der Mann in meinem Traum, er hatte wirklich existiert. Er war vor wenigen Jahren bei einem Unfall ums Leben gekommen und hatte eine Frau und zwei Kinder hinterlassen. Er hatte mich belästigt und auch andere Kinder aus dem Dorf oder auf seinen Montagereisen. Höchstwahrscheinlich hatte er auch seine eigenen Kinder missbraucht. Mich schüttelte es bei diesem Gedanken. Damals sprach man nicht öffentlich über solche Dinge, sie waren tabu. Doch jetzt wollte ich Gewissheit. Die Toten logen nicht. Meine Bekannten auf dem Friedhof – sie würden wissen, was aus dem Mann geworden war.

    Eigentlich wollte ich Korbi nichts über diese Vorfälle erzählen. Ich schämte mich dafür, und es half auch nichts, mir immer und immer wieder einzureden, dass ich keine Schuld hatte. Ich war ein ganz normales Kind gewesen und kein kleines Flittchen. Ich würde also allein nach Ernheim fahren müssen. Doch dafür fühlte ich mich noch zu schwach. Andererseits wollte ich nicht warten. Ich musste wissen, wie dieser Kerl auf dem Friedhof lebte, ob er büssen musste für seine Vergehen, wovon er zu Lebzeiten nur für eines gerichtlich verurteilt worden war. Schliesslich weihte ich Korbi doch in die Geschichte ein, liess mich dabei aber aus. „Ich bin einfach neugierig“, erzählte ich ihm, „will wissen, wie Verbrecher seiner Art das Dasein auf dem Friedhof fristen.“ Korbi sah mich ein wenig besorgt an. „Du bist wirklich noch nicht auf dem Damm. Aber wir gehen, du lässt dich ja doch nicht davon abhalten. Ausserdem muss ich gestehen, dass auch ich sehr neugierig auf die Geschichte bin.“
    Wir parkten wie üblich hinter der alten Fabrik. Korbi erwähnte, er habe sich nach den Eigentumsverhältnissen erkundigt. Das Gebäude gehöre einer Bank. Die Chancen, es zu bekommen und ein Kulturhaus einzurichten, standen nicht schlecht. Wir schlenderten die Bahnhofstrasse hinunter. Ich fühlte mich noch etwas weich in den Knien. Doch die frische Winterluft weckte meine Lebensgeister. Ich war in einen Anorak, Schal und eine dicke Mütze gehüllt, und Korbi hatte sich bei mir
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