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Der Fremde ohne Gesicht

Der Fremde ohne Gesicht

Titel: Der Fremde ohne Gesicht
Autoren: Nigel McCrery
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merkte sie, dass er nur den Schlaglöchern ausweichen wollte. Als der Wagen näher kam, hatte sie plötzlich Angst. In jeder anderen Situation wäre sie weggerannt. All ihre Instinkte schrillten Alarm und sagten ihr, sie sei in Gefahr. Normalerweise hätte sie darauf gehört. Ihr Gefühl täuschte sie selten. Doch diesmal tat sie es nicht, sondern schrieb ihr Unbehagen ihrer verständlichen Nervosität wegen des Treffens zu. Trotzdem, bis sie ganz sicher war, würde sie sich verstecken. Rasch sprang sie hinter die Fässer und wartete ab, wer aus dem Auto zum Vorschein kommen würde.
    Der Mann in dem Wagen zögerte einen Moment und suchte die Umgebung ab, bevor er ausstieg und langsam den Feldweg entlang auf die Brücke zuging. Obwohl sie wusste, dass er es sein musste, sah er ganz anders aus, als sie erwartet hatte. Er war schmuddelig und trug einen fleckigen blauen Overall. Die Füße hatte er in ein Paar alter, schwarzer Arbeiterstiefel gezwängt. Außerdem trug er eine dickrandige Brille – sie hatte gar nicht gewusst, dass er eine brauchte. Sein Haar war länger, als sie es in Erinnerung hatte, und schwarz. Sie hatte gedacht, es wäre braun gewesen. Nun, sie konnte sich irren; manchmal spielte das Gedächtnis einem einen Streich. Doch was sie am meisten erstaunte, war der Bart. Der musste ihm sehr schnell gewachsen sein. Auf allen Fotos von ihm, die sie gesehen hatte, hatte er nie einen Bart gehabt. Er hatte auch eine merkwürdige Form. Wer immer ihm erzählt hatte, dass ihm der Bart stünde, sollte erschossen werden. Seltsam war auch sein Auto. Es war alt und mit kleinen Rostflecken übersät, als hätte es jemand händeweise mit Kieselsteinen beworfen. Sein Zustand war so erbärmlich, dass nicht einmal Spade sich dazu herabgelassen hätte, es zu stehlen. Doch so eigenartig seine Erscheinung auch war, sie wusste, dass er es war. Und so stand sie ihren Instinkten zum Trotz auf und sah zu ihm hinüber. Seit Wochen hatte sie sich zurechtgelegt, was sie sagen würde. Jetzt war der Vorhang endlich aufgegangen und sie sagte ihren einstudierten Spruch auf.
    »Hallo, ich bin Claire.«
    Er zuckte zusammen, als sie plötzlich hinter ein paar großen Abfalltonnen unter der Brücke auftauchte, doch er fasste sich schnell wieder. Er erwiderte ihr Lächeln und versuchte so viel Wärme hineinzulegen wie möglich. Sie war viel hübscher, als er erwartet hatte; hoch gewachsen und schlank, mit einem dichten Schopf schwarzer Haare, die sie straff nach hinten zu einem Pferdeschwanz gebunden trug. Ihr Gesicht war oval und wohlproportioniert, mit vollen Lippen und einer frechen Stupsnase. Doch das Auffälligste an ihr waren ihre Augen. Sie waren smaragdgrün. Er konnte sich nicht erinnern, schon einmal so umwerfende Augen gesehen zu haben. Etwas so Schönes zu zerstören war eigentlich eine Schande, aber es musste sein, so tragisch es auch war. Als er auf sie zuging, um sie zu begrüßen, schaute er auf seine Uhr. Der nächste Zug würde in zehn Minuten vorbeikommen. Er musste sich beeilen.
    »Bist du allein?«
    Claire nickte und lächelte. »Wie verabredet.«
    »Gut gemacht.«
    Als er sie erreichte, legte er seinen linken Arm um ihre Taille, zog sie an sich und presste leidenschaftlich seine Lippen auf ihren Mund. In Claires Augen sah er, wie sie über seine plötzliche Annäherung erschrak. Doch ihr Ausdruck wandelte sich rasch in Schmerz und Entsetzen, als er mit seiner freien Hand ein Klappmesser aus seiner Tasche zog und es fest in ihren Bauch rammte. Er drehte die Klinge herum, während er sie immer tiefer hineintrieb. Sie versuchte sich loszureißen, doch er hielt sie fest umklammert, und der Schock hatte sie bereits geschwächt. Er spürte, wie sie in seinen Mund hineinschrie, doch er hielt seine Lippen fest auf ihren Mund gepresst, sodass kaum ein Laut nach außen drang. Immer wieder rammte er ihr die Klinge hinein, drehte sie und riss sie durch ihren Leib, und immer fand er noch eine neue Stelle, auf die er einstechen konnte. Er wusste, dass er tief ansetzen musste, um dann die Klinge aufwärts in Richtung Herz und Lungen zu treiben, ohne verräterische Zeichen an ihren Rippen zu hinterlassen. Doch je mehr sie sich vor Schmerzen wand und sich zu befreien versuchte, desto schwieriger wurde es für ihn, präzise zu treffen. Endlich, zu seiner Erleichterung, erlahmte ihr Widerstand. Schlaff hing sie in seinen Armen. Sie war tot. Er schaute in ihre halb geöffneten Augen. Sie waren trüb; die Lebendigkeit und das Funkeln, das
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