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Der Fremde ohne Gesicht

Der Fremde ohne Gesicht

Titel: Der Fremde ohne Gesicht
Autoren: Nigel McCrery
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Mörtel aus dem Mauerwerk. Er löste sich spielend leicht. Als wenig später ein langer Güterzug über die Brücke ratterte, erzitterte das ganze Bauwerk. Sie schaute sich um. Dieser Ort, abgelegen und doch leicht zu erreichen, war seit Jahren als Müllhalde benutzt worden. Unter der Brücke lag aller möglicher Unrat herum. Tüten voller Abfall faulten stinkend neben stehenden und liegenden Metallfässern, aus deren undichten Deckeln eine ausgesprochen übel aussehende braune Flüssigkeit sickerte. Aufgerissene, fleckige Matratzen bedeckten den Boden oder standen an die Wände gelehnt, und überall lagen abgefahrene und kaputte Reifen herum. Warum taten die Leute so etwas? Warum schützten sie nicht die Umwelt, in der sie lebten? Das war der wichtigste Gedanke, an dem sie sich festhielt, um den Lebensstil zu rechtfertigen, den sie für sich gewählt hatte. Die Leute mochten sie oder ihre Lebensweise verabscheuen, aber immerhin nahm sie Rücksicht auf die Umwelt. Ratten waren auch da. Zwei hatte sie bereits gesehen, riesige Viecher, fast so groß wie ein kleiner Hund oder eine Katze. Claire schüttelte sich vor Ekel.
    Sie schaute auf die Uhr. Er hatte sich verspätet; es war schon Viertel nach zwei. Die Uhr hatte ihr Spade letzten Monat zu ihrem fünfundzwanzigsten Geburtstag geschenkt. Sie war sicher, dass er sie geklaut hatte. Obwohl er und seine Kumpels ein Vermögen damit verdienten, Schnaps und Zigaretten auf den Kontinent zu schmuggeln, musste er immer noch dauernd klauen. Es war eine goldene Rolex, ziemlich teuer. Sie hatte schon welche in Läden gesehen; die kosteten Tausende. Sollte er sie vielleicht doch gekauft haben? Nein, er hatte sie garantiert geklaut. Außerdem hatte er auf der Rückseite der Uhr etwas abgefeilt. Spade wusste, was er tat, und hatte seine Sache gut gemacht, aber das hätte sie auch nicht anders von ihm erwartet. Schließlich hatte er jahrelange Übung. Sie steckte die Uhr zurück in ihre Hose. Am Arm trug sie sie niemals, aus Angst, sie könnte gestohlen werden. So sehr sie ihre Freunde liebte, die ehrlichsten Leute auf der Welt waren sie nicht. Eines musste sie Spade lassen: Er stahl kein wertloses Zeug. Auch wenn die Uhr geklaut war, es war trotzdem eine verdammt schönes Stück, und es war nett von ihm, dass er sie ihr geschenkt hatte.
    Sie setzte sich auf die Böschung und begann sich zu fragen, ob er überhaupt auftauchen würde. Eigentlich hatte sie damit gerechnet, dass er schon da wäre, wenn sie käme. Hätte ja ruhig mal pünktlich sein können. Sie schirmte mit der Hand ihre Augen vor der gleißenden Sonne am Julihimmel ab und spähte zum Horizont. Zuerst sah sie nichts, doch dann bemerkte sie eine kleine Staubwolke in der Ferne. Sie ließ sie nicht aus den Augen. Allmählich kam die Wolke näher, bis sie schließlich in dem aufgewirbelten Staub die Umrisse eines Autos erkennen konnte. Endlich.
    Er hatte sich verspätet und er wusste es. Wie bei allen gut ausgetüftelten Plänen gab es immer etwas, das einem in die Quere kam. In diesem Fall war es eine altersschwache Rostlaube von einem Auto gewesen. Die verdammte Kiste war nicht angesprungen und es hatte ihn eine Viertelstunde gekostet, die Zündung zu reparieren. Er hatte vor ihr da sein wollen, damit er es schnell hinter sich bringen konnte. Doch nun hatte er für kurze Zeit im Wald abwarten müssen, bis der Zug um zwei Uhr fünfzehn durch war. Eigentlich hätte alles vorbei sein sollen, bevor der Zug kam, doch das hatte man davon, wenn man einen Plan schlecht durchführte. Jetzt würde er flexibel auf Veränderungen reagieren müssen und das konnte gefährlich sein. Er hatte Stunden vor Ort damit verbracht, herauszufinden, wann die Züge durchkamen. Von Glück oder Pech wollte er sich nicht abhängig machen. Es brauchte nur ein Zugführer mit scharfen Augen etwas zu sehen und schon war er verloren. Es durfte keine Zeugen geben, weder zufällige noch sonst welche. Nachdem der Zug durchgefahren war, ließ er den Wagen wieder an, fuhr auf die Brücke zu und hielt in etwa fünfundzwanzig Metern Entfernung davon. Suchend schaute er sich um. Sie war nicht da.
    Claire hatte den näher kommenden Wagen genau beobachtet. Sie hatte sich Mühe gegeben, den Fahrer zu erkennen, aber der Wagen war zu weit weg, und der Staub, der von dem ausgetrockneten Feldweg aufwirbelte, verschleierte ihre Sicht. Einen Moment lang dachte sie, der Fahrer sei entweder betrunken oder krank, als der Wagen auf dem Weg hin- und herschlingerte, doch dann
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