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Der Fotograf

Der Fotograf

Titel: Der Fotograf
Autoren: John Katzenbach
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war, ihr aber sagen konnte, was sie wissenwollte. Dabei schrie alles in ihr auf, und es kostete sie die größte Kraft, ihre Qual zu unterdrücken, die sich in einem lauten Schluchzen Luft machen wollte.
    Sie gestattete sich nicht einen einzigen Gedanken an ihre Nichte.
    Einmal wurde sie auf ihrem Weg durchs Stadtzentrum eine Sekunde lang von den Scheinwerfern eines Sattelschleppers geblendet, der mit wildem Hupkonzert gefährlich nah aufgefahren war, und sie ertappte sich dabei, wie sie die Angst vor einer Kollision durch die Erinnerung an ihre letzte Begegnung mit Susan vor zwei Wochen verdrängte. Sie hatten sich am Pool des kleinen Apartmenthauses gesonnt, in dem Detective Barren wohnte, und Susan hatte ihren Dienstrevolver entdeckt, der sich etwas unpassend zwischen Handtüchern, Sonnenmilch, einer Frisbee-Scheibe und einem Taschenbuchroman im Strandbeutel befand. Detective Barren musste an die Reaktion des Teenagers denken: Sie hatte die Waffe als abstoßend bezeichnet, was es in den Augen ihrer Besitzerin präzise traf.
    »Wieso musst du sie überhaupt mitschleppen?«
    »Weil wir genau genommen nie außer Dienst sind. Falls mir ein Verbrechen unter die Augen kommt, muss ich wie eine Polizistin reagieren.«
    »Aber ich dachte, das brauchst du jetzt nicht mehr, ich meine, seit …«
    »Stimmt. Seit der Schießerei nicht mehr. Nein, ich bin jetzt eine ziemlich gezähmte Polizistin. Bis ich zu einem Verbrechen gerufen werde, ist alles schon gelaufen.«
    »Igitt. Leichen, oder?«
    »Richtig. Igitt ist ebenfalls richtig.«
    Sie hatten gelacht.
    »Wär schon komisch«, hatte Susan gemeint.
    »Was wäre komisch?«
    »Von einer Polizistin im Bikini verhaftet zu werden.«
    Sie hatten wieder gelacht. Ihre Nichte war aufgestanden und kopfüber in das blaue Wasser des Pools gesprungen. Detective Barren hatte Susan dabei beobachtet, wie sie mühelos unter Wasser bis zum gegenüberliegenden Beckenrand glitt, dann, ohne einmal aufzutauchen, wendete und wieder zum Ausgangspunkt zurückschwamm. Der Anflug von Eifersucht auf ihre Jugend war ebenso schnell verflogen, wie er gekommen war; schließlich war sie selbst auch ganz gut in Form.
    Susan hatte die Arme auf dem Beckenrand verschränkt und ihre Tante gefragt: »Merce, wie kommt es eigentlich, dass du direkt am Meer wohnst und nicht schwimmen kannst?«
    »Das bleibt mein süßes Geheimnis«, hatte sie erwidert.
    »Kann ich nicht nachvollziehen«, hatte Susan erklärt, während sie aus dem Pool stieg und das Wasser von ihrem schlanken Körper floss. »Habe ich dir übrigens erzählt, dass ich diesen Herbst Meereskunde als Hauptfach wähle? Mit Sicherheit glitschige Fische.« Sie hatte gelacht. »Stachelige Krustentiere. Riesige Säuger. Jacques Cousteau, jetzt komm ich.«
    »Das ist großartig«, hatte die Polizistin geantwortet. »Bei deiner Liebe zum Wasser.«
    »Allerdings. Oh for a life of the sun, the sand, the deep blue sea and fish guts for me«, hatte Susan geträllert.
    Wieder hatten sie gelacht.
    Susan hatte immer gelacht, dachte die Polizistin und gab Gas. Sie tauchte in das Lichtermeer des Stadtzentrums ein und bahnte sich ihren Weg zwischen den Hochhäusern, die in den südlichen Himmel ragten. Obwohl ihr ein heißer Stich mitten durchs Herz ging, so dass ihr die Luft wegblieb, zwang sich Detective Barren, konzentriert zu fahren und sämtliche Erinnerungen aus dem Kopf zu verbannen, um klar denken zukönnen: Sieh dir alles genau an, mach dich gleich auf die Suche. Sie musste nur darauf achten, den Anblick, der sie erwartete, streng von ihren Erinnerungen zu trennen.
     
    Detective Barren bog von der Route I ab und gelangte in eine Wohngegend. Es war spät, schon weit nach Mitternacht, und bis zum Morgengrauen blieben nur wenige Stunden. Es herrschte wenig Verkehr, und sie war schnell gefahren – getrieben von dem Gefühl der außerordentlichen Dringlichkeit, das einen gewaltsamen Tod stets begleitet. Wenige Kilometer vor dem Ziel drosselte sie jedoch unvermittelt das Tempo, bis ihr unscheinbarer Mittelklassewagen nur noch im Schneckentempo kroch. Sie suchte die Reihen der gepflegten, gutbürgerlichen Häuser nach Lebenszeichen ab. Die Straßen waren leer, die Häuser dunkel. Hier und da brannte in einem Zimmer noch Licht, und Merce fragte sich, welches Buch oder Fernsehprogramm, welcher Streit oder welche Sorgen den Bewohner vom Schlaf abhielten. Am liebsten hätte sie vor einem dieser Häuser angehalten, geklingelt und gefragt: »Haben Sie Kummer? Quält Sie
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