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Der Fluch der Schriftrollen

Der Fluch der Schriftrollen

Titel: Der Fluch der Schriftrollen
Autoren: Barbara Wood
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konnte sie nirgends finden.
    Wer weiß was ihnen zugestoßen
war? Welches ruchlose Schicksal sie ereilt hatte? Ich konnte nur beten, daß sie
jetzt tot waren und dies alles nicht länger miterleben mußten.
    Und so ergab es sich, daß ich
in der letzten Stunde vor Tagesanbruch, als Titus’ Truppen ihre letzten
Anstrengungen unternahmen, über die Stadtmauern hereinzubrechen, an das Haus
eines Mannes kam, den ich kannte.
    Ich hatte ihn oft bei Miriam
gesehen. Er war ein guter Jude und ein Pharisäer, der an die Rückkehr des
Messias glaubte. Drinnen in seinem Haus hatten sich viele Menschen versammelt,
die mit vor Angst geweiteten Augen in der Dunkelheit kauerten. Als er mich
erkannte, lud er mich ein, hineinzukommen. Er sagte: »Wir haben für uns alle
noch eine Scheibe Brot und ein wenig Opferwein übrig, den wir versteckt
hielten. Wir werden jetzt das Abendmahl abhalten und beten. Willst du dich zu
uns gesellen?«
    Ich nahm die Einladung an,
und weil ich einst Schüler im Tempel gewesen war, bot ich ihnen an, sie beim
Gebet anzuleiten. Ich brach die kleine Scheibe Brot in winzige Stückchen und
verteilte sie an die Versammelten mit den Worten: »Dies Brot ist der Leib des
Messias, der eines Tages das Abendmahl mit uns teilen wird.«
    Dann schenkte ich den letzten
Wein in ein paar Becher, und als ich dies tat, schaute ich in die Gesichter der
Anwesenden. Es waren jämmerliche, verhungernde Gestalten, die aus verwirrten
Augen vor sich hin starrten. Und als ich sie so anblickte, sah ich wieder die
Leichname von Rebekka und Jakobus und Philippus und all der anderen vor mir,
die einst so hoffnungsvoll gewesen waren wie diese. Dann erinnerte ich mich an
den Beutel mit dem weißen Pulver, den ich eigentlich Saul zugedacht hatte und
den ich noch immer in meinem Gürtel trug. Und in einem unbeobachteten
Augenblick schüttete ich das ganze Pulver in die Becher. Dann reichte ich den
Wein herum, so daß jeder von ihnen trinken konnte und sprach: »Dieser Wein ist
das Blut des Erlösers, der eines Tages das Abendmahl mit uns teilen wird.«
    Und nachdem der Besitzer des
Hauses das Gift getrunken hatte, fragte er mich: »Willst du nicht mit uns vom
Blute des Messias trinken?«
    Und ich erwiderte: »Ich werde
aus dem Becher meines Meisters trinken.«
    Er richtete einen verwirrten
Blick auf mich, und einen Augenblick später verschied er friedlich.
    Es befanden sich ihrer
neunundachtzig in diesem Haus, von einem steinalten Greis bis zu einem
sechsjährigen Kind. Und alle waren sie tot, bevor ich an die kühle Morgenluft
heraustrat. Wie lange ich durch die Straßen irrte, über Leichen stolperte und
im Dreck ausrutschte, vermag ich nicht zu sagen. Auch weiß ich nicht, wie ich
es schaffte, unversehrt durchzukommen, außer daß dies vielleicht die Strafe
war, die der Herr für mich ausersehen hatte. Und so lautete der Urteilsspruch
für mein Verbrechen, daß ich bis ans Ende meiner Tage mit der Last des Schuldgefühls
für die Missetat leben sollte, die ich begangen hatte. In der reinen,
schneidenden Morgenluft gingen mir plötzlich die Augen auf. Und als ich
erkannte, was mein wahres Verbrechen in dieser Nacht gewesen war, wußte ich,
daß ich ein zur Vergessenheit verdammter Mann war.
    Denn mein Verbrechen hatte
nicht darin bestanden, jene neunundachtzig Menschen in dem Haus zu töten,
sondern darin, sie der letzten Möglichkeit beraubt zu haben, den Messias zu
sehen. Ich fiel auf den Pflastersteinen auf die Knie, zerriß meine Kleider und
heulte laut.
    Weil ich, David Ben Jona,
eine Nacht lang aufgehört hatte, an das Kommen des Messias zu glauben, hatte
ich diesen gütigen Menschen ihre letzten paar Stunden der Hoffnung genommen!
Während sie noch lebten, hätte er kommen können. Nur weil ich den Glauben
verloren hatte, bedeutete dies nicht, daß der Messias niemals käme.
    Und dies, mein Sohn, war
deines Vaters scheußliches Verbrechen, die niederträchtige Tat, die ihn aus der
Gemeinschaft der Menschheit ausgestoßen hat.
    Ich trommelte mit den Fäusten
auf den Boden, bis sie bluteten, und schlug mit Steinen gegen mein Gesicht und
meine Brust. Doch David Ben Jona war es nicht vergönnt, zu sterben. Nicht nach
dem unverzeihlichen Verbrechen, das er an neunundachtzig Nazaräern verübt
hatte.
    Im nächsten Augenblick wußte
ich, was ich zu tun hatte, denn es war, als wäre ich nicht mehr länger Herr
meiner selbst, sondern folgte den Weisungen einer unsichtbaren Kraft. Ich mußte
Jerusalem verlassen. Es stand mir nicht zu,
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