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Der Fluch der Schriftrollen

Der Fluch der Schriftrollen

Titel: Der Fluch der Schriftrollen
Autoren: Barbara Wood
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schon jetzt zu sterben, denn
derselbe Gott, den ich kurz zuvor verflucht hatte, wollte nun an mir Rache
nehmen.
    Mir kam der Gedanke, wie ich
fliehen konnte. Es war Gottes Plan, und ich befolgte ihn widerspruchslos.
    Um aus Jerusalem zu
entkommen, mußte ich den Weg durch eines der Stadttore nehmen, vor denen die
römischen Streitkräfte lagen. Und nur auf eine Art konnte man unversehrt durch
die feindlichen Lager gelangen, welche die Stadt umringten: als Aussätziger.
Der Plan eröffnete sich mir wie in einem Traum, denn ich war in keiner Weise um
meine Sicherheit oder um mein Leben besorgt – ich sehnte den Tod sogar herbei
–, und doch erkannte ich, daß ich auf diese Weise aus der Stadt entkommen
sollte. Daher wußte ich, daß es Gottes Plan war.
    Gemäß dem dreizehnten Kapitel
des dritten Buches Mose zerriß ich meine Kleider, entblößte mein Haupt und
verhüllte meinen Bart. Dann ging ich durch die Straßen und rief aus: »Unrein!
Unrein!« wie es im Gesetz geschrieben steht.
    Als ich mich dem Joppe-Tor
näherte und mich nicht weit vom Palast des Herodes befand, bemerkte ich, daß
die Menschen vor mir die Flucht ergriffen. Ich lief wie im Traum, ohne Hast und
völlig achtlos, denn alles Leben war von mir gewichen, und mein Körper war wie
aus Holz. Dennoch machte man mir den Weg frei. Niemand wagte es, mich
aufzuhalten, und das Tor wurde mir von den Zeloten, die es bewachten, geöffnet.
Sie waren ein roher, abgezehrter Pöbelhaufen mit ungekämmten Bärten und
blutgetränkter Kleidung. Sie musterten mich geringschätzig und machten
unflätige Bemerkungen, als ich vorüberging.
    Als das Tor sich hinter mir
schloß, sah ich vor mir die furchterregenden Lager der Römer, Zeltreihen und
frühmorgendliche Feuer, soweit das Auge reichte. Ich rief: »Unrein! Unrein!«
und ging mitten hindurch. Als ich auf die Straße nach Damaskus zuschritt,
begegnete ich zwei widerlich anzusehenden Söldnern, die mit ihren frisch
geschliffenen Schwertern herumfuchtelten und mich argwöhnisch betrachteten. Da
sie einen gängigen griechischen Dialekt sprachen, konnte ich verstehen, was sie
sagten. Der eine wollte mich aufschlitzen und meine Gedärme nach Gold
durchsuchen, doch der andere hatte Angst, sich mir zu nähern. Der erste meinte,
ich könne mich ja nur verkleidet haben, doch der andere hielt dagegen, daß er
das Risiko nicht eingehen wolle. Und so kam es, daß ich die Straße nach
Damaskus unversehrt erreichte, denn nicht einmal Römer sind gewillt, einen
Aussätzigen zu berühren.
    Wie lange ich
unterwegs war, kann ich nicht sagen, aber es ist ein langer Weg von Jerusalem
nach Galiläa, und ich sah die Sonne viele Male auf- und untergehen. Weil ich
Nahrung brauchte, legte ich meine Verkleidung als Aussätziger nach einer Weile
ab und zog als Bettler durchs Land. Ein wenig Getreide hier, eine Brotrinde da
und Wasser, wenn ich gelegentlich auf einen Brunnen stieß. Und allenthalben sah
ich die durch die Römer verursachte Zerstörung. Und als ich so dahin wanderte,
kam ich zu der Erkenntnis, daß ich ein noch geringeres und noch
verachtenswerteres Geschöpf war, als ich bisher geglaubt hatte, denn über meine
leichtfertige Flucht aus Jerusalem und meine ziellose Wanderung nach Norden
hatte ich Sara und Jonathan völlig vergessen. Und damit hatte ich das einem
sterbenden Freund gegebene Versprechen gebrochen. Welche Greuel Sara und
Jonathan auch immer erleiden mußten, es war meine Schuld, denn hätte ich zu
meinem Wort gestanden, hätte ich sie zusammen mit mir gerettet…
    Irgendwie schlug ich mich bis
Magdala durch – wie, das werde ich wohl niemals erfahren. Es gab da eine nicht
zu mir gehörende Kraft, die mich lenkte, denn wenn es allein nach mir gegangen
wäre, hätte ich mich am Wegrand niedergelegt und wäre wohl schon lange tot.
Doch mein Überleben entsprach weder meinem eigenen Wunsch, noch war es dem
Schicksal zuzuschreiben. Und trotzdem erreichte ich schließlich das leere Haus
meines Vaters und ein Dorf, das von Krieg und Plünderung gezeichnet war. Aus
der verlassenen Synagoge nahm ich diese Schriftrollen, denn plötzlich wußte
ich, welchem Zweck ich dienen sollte. Gott der Herr hatte mich nur aus einem Grund
gerettet: Ich sollte alles, was geschehen war, niederschreiben. Warum ich dies
tun sollte, weiß ich auch nicht. Doch ebenso wie es der Plan des Herrn war, daß
du mein Sohn sein solltest, Jonathan, so muß es auch sein Plan gewesen sein,
daß du das Leben deines Vaters in allen Einzelheiten erfahren
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