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Der Fluch der Schriftrollen

Der Fluch der Schriftrollen

Titel: Der Fluch der Schriftrollen
Autoren: Barbara Wood
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gewöhnlichen Sprechstunden nicht abhalten würde, so
daß besondere Terminvereinbarungen getroffen werden müßten.
    Die kühle Abendluft, die ihm
außerhalb des Gebäudes entgegenströmte, erfrischte ihn nur wenig. Es ging auf
fünf Uhr nachmittags zu, und die Sonne war fast untergegangen. Um diese Zeit,
zwischen den Tages- und Abendveranstaltungen, war der Campus, das ausgedehnte
Unigelände, ruhig und fast menschenleer. Die wenigen Gedanken, die ihm durch
den Kopf gingen, als er die Außentreppe des Gebäudes hinunterlief – einen
Bericht über seine Handschriften an Randall schicken, Angie vor sechs Uhr
anrufen, auf dem Heimweg an der Reinigung vorbeifahren –, wurden von einer
Stimme an seiner Seite unterbrochen: »Dr. Messer? Entschuldigen Sie…« Er hielt
auf der letzten Treppenstufe inne und schaute hin. Judy Golden war fast dreißig
Zentimeter kleiner als er, und durch ihre flachen Sandalen wurde dieser
Unterschied noch betont. Sie war ein zierliches, hübsches Mädchen. Ihr volles
schwarzes Haar wehte im Abendwind. »Entschuldigen Sie, sind Sie in Eile?«
    »Nein, überhaupt nicht.« In
Wirklichkeit hatte er es natürlich eilig, aber er war auch neugierig, was sie
von ihm wollte. Seit Beginn des Semesters hatte sich das stille Mädchen nur
selten zu Wort gemeldet.
    »Ich wollte Ihnen nur sagen,
daß mir Ihr Gebrauch von ›Common Era‹ anstelle von ›Anno Domini‹ gefällt.«
    »Wie bitte?«
    »Viertes Jahrhundert C. E.
Das haben Sie doch an die Tafel geschrieben.«
    »Oh, ja, ja…«
    »Ich war überrascht, es zu
sehen. Besonders, weil es von Ihnen kam. Nun, ich meine… Ich wollte Sie nur
wissen lassen, was ich darüber denke. Dieser Linguistik-Hauptfächler Glenn
Harris fragte mich auf dem Weg aus dem Seminarraum, was es bedeute…« Ben
runzelte die Stirn. »Was meinen Sie damit, besonders, weil es von mir kam?«
    Judy errötete und wich ein
paar Schritte zurück. »Es war blöd von mir, das zu sagen. Es tut mir leid, es
rutschte mir nur so heraus…«
    »Oh, schon in Ordnung.« Er
setzte ein Lächeln auf. »Aber was meinten Sie damit?«
    Sie wurde noch röter. »Nun,
ich meine, jemand erzählte mir, Sie seien Deutscher. Sie seien in Deutschland
geboren, sagten sie mir.«
    »Oh, das… Ja, das stimmt…
aber…« Ben ging seinen Weg in der eingeschlagenen Richtung weiter, und Judy
versuchte an seiner Seite mit ihm Schritt zu halten.
    »Der Gebrauch von C. E.
bedeutet nicht zugleich eine theologische Meinung. Es ist, wie wenn ich sage
›Ms‹. Wenn ich Sie Ms. Golden nennen würde, müßte das nicht unbedingt bedeuten,
daß ich ein Anhänger der Frauenemanzipation bin.«
    »Trotzdem sieht man C. E.
nicht oft.« Sie mußte doppelt so viele Schritte machen, um mit seinem Tempo
mitzuhalten. »Ja, das kann schon sein.« Ben hatte niemals wirklich darüber
nachgedacht. Unter jüdischen Historikern und Geisteswissenschaftlern hatte man
den Gebrauch von ›A. D.‹ zur Bezeichnung der neuen Zeitrechnung fallenlassen,
weil es ein Einverständnis mit der Bedeutung dieses Begriffs mit einschloß.
Statt dessen benutzte man jetzt ›C. E.‹, Common Era, eine objektivere
Bezeichnung, die aber eigentlich dasselbe aussagte.
    »Was hat die Tatsache, daß
ich in Deutschland geboren wurde, damit zu tun?«
    »Nun, es ist ja eine jüdische
Erfindung.«
    Für einen Augenblick zeigte
sich eine leichte Überraschung auf seinem Gesicht. Dann lachte er kurz auf und
meinte: »Oh, ich verstehe. Wissen Sie denn nicht, daß ich auch Jude bin?« Judy
Golden blieb unvermittelt stehen. »Wirklich?« Er schaute auf ihr Gesicht hinab.
    »Was ist denn los? Oh, warten
Sie, sagen Sie’s mir nicht. Ich sehe nicht jüdisch aus, ist es das, was Sie
denken?«
    »Ich befürchte, jetzt bin ich
wirklich ins Fettnäpfchen getreten«, erwiderte Judy verlegen. »Genau das habe
ich gedacht. Und dabei hasse ich diese Vorurteile selbst.«
    Sie liefen in Richtung auf
das nächstgelegene Parkhaus weiter. »Das erklärt es«, sagte sie. »Erklärt was?«
    »Das C. E.«
    »Da muß ich Sie leider
enttäuschen. Für mich beinhaltet diese Abkürzung keinerlei persönliche
Anschauung. Ich benutze sie als objektive Bezeichnung und nicht aufgrund einer
Nichtanerkennung des Glaubens, der durch die Worte Anno Domini, im Jahr unseres
Herrn, zum Ausdruck kommt. Außerdem wird es in zahlreichen Büchern so
gehandhabt, und auch viele meiner Kollegen sind dazu übergegangen, diesen
Begriff zu verwenden. Die Juden haben da kein Monopol. Nur weil jemand C.
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