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Der Fluch der Druidin

Der Fluch der Druidin

Titel: Der Fluch der Druidin
Autoren: Birgit Jaeckel
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fratzenverzierten Pfosten. Es stand offen. Eines der beiden Feuer, die den Eingang zu Carans Gehöft erleuchteten, war erloschen, in dieser Ecke war alles dunkel. Neugierige gingen auf der Straße dahinter vorbei, um einen kurzen Blick auf das Brautpaar und die geladene Gesellschaft zu erhaschen. Nichts war daran ungewöhnlich, dennoch hatte Sumelis einen Moment lang das Gefühl, als hätte ein forschendes Augenpaar dieser vorbeischlendernden Schatten nicht Samis und Litus gegolten, sondern ihr.
     
    Sumelis stand auf dem Wehrgang, fünfzig Schritt vom Osttor entfernt, den Blick nach Norden gerichtet. Sie zählte ungefähr vierzig Arbeiter, die damit beschäftigt waren, die Stadtmauer zu erneuern. Die Balken, die das Gerüst der alten Mauer bildeten, hatten zu modern begonnen, und so hatte der Rat vor wenigen Jahren beschlossen, dem alten Mauerring eine neue Mauer vorzublenden. Dazu wurden lange Pfosten aufgerichtet und rückwärtig in der alten Verteidigungsanlage verankert. Sie stützten die zwischen ihnen liegenden Mauerabschnitte aus sorgfältig aufgeschichteten Kalksteinen. Man hatte mit der Erneuerung am Osttor begonnen und war dann dem Lauf der Sonne gefolgt. Mittlerweile waren die Arbeiten beinahe abgeschlossen, und der Ring war fast geschlossen. Zehntausend Schritte brauchte es, so hatte Sumelis gehört, um die gesamte Länge der Stadtmauer abzuschreiten. Sie versuchte, sich vorzustellen, wie viele Steine nötig gewesen waren, um diese Mauer zu bauen, aber ihre Vorstellungskraft reichte dafür nicht aus.
    »Was hat es eigentlich mit diesem Pfahl dort auf sich?«, fragte sie, ohne den Kopf zu drehen. Ihr rechter Zeigefinger deutete zum Osttor. »Er soll verflucht sein, habe ich gehört.«
    Caran, ihr Großvater, trat neben Sumelis, sein Blick folgte ihrem ausgestreckten Arm. Vor dem Tor erhob sich ein Pfahl in den Himmel, der an seinem oberen Ende mit Schnitzereien verziert und von einer Querstange durchbohrt war. An ihren Enden baumelten bunte Bänder, ein fröhlicher Anblick, obwohl die Querstange eigentlich dazu gedacht war, die Schädel jener aufzuspießen und zur Schau zu stellen, die es wagten, die Stadt und ihre Bewohner anzugreifen. Allein die Existenz dieses Pfahls bewies, dass niemand dem Frieden wirklich traute, selbst wenn den vindelikischen Stämmen in den letzten Jahren keinerlei Angriff von Feinden gedroht hatte. Wie ein mahnender Finger stand er vor der Stadt, eine Verbindung von Himmel und Erde, Vergangenheit und Gegenwart.
    »Der Pfahl wurde letzten Herbst, kurz bevor du ankamst, aufgestellt«, beantwortete Caran die Frage seiner Enkelin. »Die Druiden wollten an ihm die Prozession beginnen, die während des Totenfests vom Tor durch die Stadt zum Haupttempel führt. Sie schickten einen ihrer höchsten Druiden, um den Pfahl bei seiner Errichtung zu weihen. Die Gebete und Zauber, die in ihn gewoben sind, sollen eigentlich die Stadt beschützen, aber während sie den Pfahl noch in die Höhe wuchteten, zog ein Gewitter auf. Ein Junge, der auf der Mauer stand, wurde vom Blitz getroffen und starb. Er war erst sechs Jahre alt. Seinem Vater, der dicht neben ihm stand, geschah nichts. Es war wirklich seltsam.«
    »Was passierte dann?«
    »Die Druiden bestimmten, die Götter hätten ein Menschenleben gefordert als Ausgleich für ihr Wohlwollen oder als Strafe, weil wir ein Bauwerk wie diese Mauer errichtet hatten, ohne ihnen zu opfern. Alle hofften, dass mit dem Tod des Jungen ihr Zorn besänftigt wäre. Das Kind wurde über Nacht zum Helden erklärt, weil es sein Leben für den Schutz der Stadt eingetauscht hatte. Um die Götter an ihren Handel zu erinnern, versenkten die Druiden das Skelett des Jungen in der Durchfahrt unter dem Osttor und brachten einen seiner Unterschenkelknochen in den Tempel. Dort liegt er jetzt, und durch ihn erneuern sie jeden dritten Vollmond die Gebete und Schutzzauber, die das Tor bewachen sollen.«
    »Das ist keine schöne Geschichte.«
    Caran kniff die Augen zusammen. »Für die meisten schon. Sie sind froh, dass die Götter ein Opfer gefordert haben. Das macht die Stadt stärker, glauben sie.«
    Sumelis schnaubte abfällig, was Caran amüsierte. »Du bist wie deine Mutter«, murmelte er. »Nicht nur, dass du ihr ähnlich siehst, nein, du hast auch viel von ihrem Wesen geerbt.«
    »Ich dachte, ich sähe dir ähnlich?«
    »Das hat sich zum Glück für dich rechtzeitig gegeben.« Er warf ihr einen schrägen Blick zu. »Das mit der Gesichtsform, der Nase und dem Kinn tut mir
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