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Der Fliegenpalast

Der Fliegenpalast

Titel: Der Fliegenpalast
Autoren: Residenz
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als hätte ich geahnt, wie ich selber im Alter niemanden … Aber entschuldigen Sie, bitte, lassen Sie sich nicht aufhalten.«
    »Es tut mir so leid, wie gerne würde ich Ihnen jetzt zuhören!«

IM FLIEGENPALAST waren alle Fenster der Glasfront geöffnet. Er erinnerte sich, wie seine Mutter damals vor so vielen Jahren in dem ganz ähnlichen, nur viel kleineren, terrassenartigen Wintergarten ihres Hotels immer wieder über die vielen Fliegen geklagt hatte; wo die, und dazu manchmal auch die Wespen, bloß alle herkämen … Übrigens hatte man sich auch im
Parkhotel
in Lenzerheide der Fliegen nicht erwehren können; der Carl hatte wegen der Fliegen auf dem Tisch einige Male beinah hysterisch reagiert.
    Noch immer bedauerte er, daß der ohnehin verspätete Carl an jenem Tag in Lenzerheide nicht noch später zum Frühstück erschienen war, sondern gerade in dem Moment, als er die Seite aus der Zeitung unauffällig herausreißen hatte wollen. Was gäbe er jetzt für diese Feuilletonseite mit dem Prosagedicht des Robert Walser! Ich bin immer noch nicht Herr meiner selbst, dachte er. Walser war ihm als ein unverschämter Kerl vorgekommen, damals – vor wie vielen Jahren? –, bei einem Empfang im Hause des Verlegers Samuel Fischer in Berlin. Plötzlich war Walser, offensichtlich ein wenig betrunken, auf ihn zugekommen und hatte gerufen: »Können Sie eigentlich nie vergessen, daß Sie berühmt sind?« Zuvor, als H. sich gerade mit der Frau seines Verlegers unterhielt, hatte diese, während Walser mit einem leeren Glas in Bergschuhen vorbeiging, erzählt, was Walser über Rilke gesagt hatte: Seine Bücher gehörten auf die Nachttische alter Jungfern. Das hatte ihn zuerst amüsiert, aber dann hatte er gehofft, Walser würde sich nicht in gleicher Weise über seine Bücher äußern, und war in das Nebenzimmer gegangen, um seinen Verleger zu suchen. Es war ihm wieder eingefallen, was er Fischer wegen der geplanten Ausgabe der Prosaschriften noch hatte sagen wollen. Er dachte, vor Jahren habe ich den Walser auf eine Liste der Beiträger für meine Zeitschrift
Morgen
gesetzt, aber Borchardt, der Mitherausgeber, hatte opponiert: Er habe den neuen Roman
Geschwister Tanner
gelesen, dieser habe ihm nur peinliche Stunden gemacht, hatte der Rudolf ihm geschrieben.
    Der mittägliche Gurkensalat kam ihm immer wieder die Speiseröhre hoch.
    Mittlerweile waren alle Tische und Stühle belegt, auf jedem Tisch Sachertorten oder Apfelstrudel – es war ja kein Wunder, daß es von Insekten wimmelte. Endlich war es in der Fusch Hochsommer geworden, dachte er, jetzt, wo die Abreise bevorstand. Er saß am Rand der verglasten Terrasse, ein besserer Platz war nicht mehr frei gewesen. Rechterhand konnte er durch die Verglasung hinunterschauen auf das Bachbett des Weixelbaches, der zur Zeit so ruhig dahinfloß, daß er gar nicht zu hören war.
    Eine Bemerkung Eckermanns in seinen
Gesprächen mit Goethe
, die H. in der Nacht, als er nicht schlafen konnte, eingefallen war, beschäftigte ihn wieder. Es war ihm klar geworden, daß es ihm derzeit einfach nicht gelang, sich auf einen belebten Platz im Athen des dritten Jahrhunderts zu versetzen: Goethe habe erzählt, so Eckermann, er habe als junger Mann von zweiundzwanzig Jahren das Theaterstück
Götz von Berlichingen
geschrieben und habe doch von den Verhältnissen und Geschehnissen nichts selber erlebt. Er müsse also durch
Antizipation
in die Lage versetzt worden sein, diese Welt wahrhaftig darzustellen, zum Leben zu erwecken.
    Es war in den neunziger Jahren gewesen, daß er seinem Vater zu Hause in Wien diese Passage aus Eckermanns Gesprächen mit Goethe vorgelesen hatte – nachdem der Vater einige Tage davor mitten im Lesen des ersten Aktes von
Ascanio und Gioconda
ausgerufen hatte: »Woher hast du denn das alles, das ist mir ja beinah unheimlich.« Auch Goethe, hatte er seinem Vater darauf geantwortet, hat ja nicht im sechzehnten Jahrhundert gelebt.
    Ich hab, dachte er, damals Novellen von Bandello gelesen; und manch anderes, und nicht zu vergessen, daß ich zeitweise fast täglich im
Kunsthistorischen Museum
vor den Bildern Tizians und Giorgiones gestanden bin – aber trotzdem muß wohl auch eine Art von Antizipation mit im Spiel gewesen sein. Die Figur der Gioconda war eng verflochten mit der Marie von Gomperz, das hatte er dem Vater nicht sagen können … Oft hatte er tatsächlich den Eindruck gehabt, die Marie komme aus einem anderen Jahrhundert. Aber schon der
Tod des Tizian
, vor
Ascanio
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