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Der Fliegenpalast

Der Fliegenpalast

Titel: Der Fliegenpalast
Autoren: Residenz
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Zunge fühlt sich wie gelähmt an, manchmal, seit gestern … Ja, der Arzt. Doktor Seywald … Er vermutet, ich hätte einen leichten Schlaganfall erlitten … Ich freue mich jedenfalls, Sie zu sehen …«
    Er dachte, der Nachttopf ist Gott sei Dank ausgeleert, also ist die Kreszenz doch hier gewesen, und er genierte sich wegen seiner zerknüllten Hose, die über dem Brett am Fußende der Bettstatt hing. Er habe, sagte er, und fuhr sich mit beiden Händen durchs schüttere Haar, vor zwei Jahren schon einmal so einen kleinen Anfall gehabt. Er wolle diesen Tag einfach im Bett bleiben, morgen werde er hoffentlich wieder aufstehen können. Er deutete noch einmal zum Stuhl hin.
    »Ja, ich habe nur einen Moment Zeit, es ist beinahe alles eingeladen. Aber ich konnte doch nicht einsteigen und losfahren, ohne mich von Ihnen zu verabschieden. Der Portier wußte bloß, daß Sie nach dem Arzt verlangt haben.«
    Das Packerl auf dem Tisch – hatte die Kreszenz ihm die heutige Post hingelegt? Er überlegte, ob er noch einmal versuchen sollte, sich langsam aufzurichten. Auf dem Nachtkästchen die Tabletten, Taschentücher. Auf dem Tisch ein Teller mit zwei Äpfeln und einem Messer und die
Timon
-Mappe. Ein paar Mal hatte er in der Früh die gelungenen drei Seiten gelesen, den Bacchis-Dialog. Daraus etwas zu entwickeln mußte doch möglich sein …
    »Schon merkwürdig, Herr Doktor, da ist mir heute morgen, als mir schwindlig wurde, sobald ich aus dem Bett steigen wollte, mein Vater eingefallen. Hier in Bad Fusch, vor vielen Jahren, ich war ungefähr zwanzig. Mein Vater ist damals ein paar Tage nach unserer Ankunft – wir haben ja seit meiner Kindheit jedes Jahr wenigstens drei Wochen im Juli hier heroben verbracht, hauptsächlich, weil die Seehöhe, das Klima und die Heilwässer meiner Mutter sehr gut getan haben … Mein Vater also ist erkrankt, verbrachte zwei Tage im Bett, und ich war sehr erschrocken: Die Mutter war oft einmal unpäßlich, aber nicht mein Vater. Er wird damals ungefähr so alt gewesen sein wie ich jetzt, um die fünfzig. Immer wieder einmal bin ich zur Zimmertür der Eltern gegangen, hab ein Ohr an die Tür gedrückt, gelauscht, ob ich etwas höre … Am dritten Tag ist mein Vater aufgestanden. Er hatte es abgelehnt, daß der Arzt aus Zell am See geholt wird, hat darauf bestanden, eine kleine Tour zu unternehmen …«
    »Auch Sie werden wieder gesund, glauben Sie mir. Es gibt heutzutage sehr gute gefäßerweiternde Mittel. Wie ich neulich schon sagte, Sie müssen versprechen, sich im
Allgemeinen Krankenhaus
untersuchen zu lassen, sobald Sie wieder in Wien sind … Kann ich Ihnen noch etwas bringen lassen?«
    H. richtete sich auf, stopfte die beiden Polster zurecht.
    »Leider bin ich schon sehr im Verzug, werde erwartet, aber es ist mir jetzt egal, was die Baronin sagt. Wenn alles gut verläuft, sind wir morgen in Fratres, und ich werde mich viel freier fühlen. Und werde mir überlegen, wie mein Leben weiter verlaufen soll. Sie sehen so blaß aus, und ich kann jetzt leider im Moment gar nichts tun für Sie … Mit dem Rauchen sollten Sie sich sehr zurückhalten.«
    Aber ich rauche ja gar nicht, dachte er und winkte Krakauer verabschiedend zu. Wieder versuchte er, sich im Bett aufzusetzen, und mit Genugtuung konstatierte er, daß der Schwindel kaum noch zu spüren war. Und fragte sich, ob es wahr sei, daß die guten Ärzte heilsame Wellen aussandten.
    »Ich bräuchte
Another Go
… Sie erinnern sich vielleicht? Mein Sohn hat das Wort irgendwo … Ich bräuchte viele Jahre, um mancherlei noch zu Ende zu bringen. So vieles, was ich angefangen habe, schien verheißungsvoll und war schließlich nicht lebensfähig.«
    »Aber Sie haben doch so vieles geschaffen.«
    »Ich weiß nicht mehr, welcher Autor aus dem vorigen Jahrhundert gesagt hat, er habe fünfzig Jahre lang in Irrtümern gelebt, weitere Jahre in Unsicherheit und Angst, und erst spät habe er angefangen zu verstehen, was man tun kann und was man lassen soll. Das bringt mich auf meinen
Tizian
, den ich kürzlich in der neuen Werkausgabe nach so vielen Jahren wieder gelesen habe. Der große Tizian, neunundneunzigjährig, sagt in meinem Stück, daß alle seine alten Arbeiten Stümpereien seien, erst jetzt habe er Gewißheit erlangt. Er malt bis zu seiner Sterbestunde an seinem
Pan
, den er verschleiert darstellt. Erst am Ende hört er auf, ein Stümper zu sein. Damals, mit achtzehn Jahren, habe ich den Tizian umgeben mit jungen Schülern und jungen Verehrern,
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