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Der Fliegenpalast

Der Fliegenpalast

Titel: Der Fliegenpalast
Autoren: Residenz
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der Bleistifte seit dem Krieg nicht mehr die gleiche war; manchmal sei das Geschriebene nach ein paar Monaten beinah unleserlich.

MIT DEM Taschentuch fuhr er über die Lehne der hinfälligen Bank. Zwischen den Brettern Spinnweben, er wischte mit dem Tuch über die Sitzbretter, ehe er die Schreibmappe ablegte. Ihm war in den ersten Tagen schon aufgefallen, daß die Kurgäste nicht mehr auf den Bänken entlang der Spazierwege saßen, sondern sich auf den Terrassen des
Grandhotels
, der
Post
oder des
Berghofes
bewirten ließen; es waren auch weniger Bänke im Bereich des Ortes aufgestellt. Als er sich hinsetzte, wurde ihm bewußt, daß er auf dieser Bank schon in seinen Kinder- und Jugendjahren gesessen war, ja manchmal auch darauf gelegen, mit einem Buch als Kopfstütze. Früher hatten die Eltern immer geklagt, daß beim Spazierengehen am Nachmittag nie eine freie Bank zu finden sei, überall säßen die Kurgäste und tratschten. Erst später, mit achtzehn Jahren, hatte er in der Fusch manchmal Anschluß an Gleichaltrige gefunden, lustige Wiener Mädel oder den jungen amerikanischen Maler Richard, mit dem er Florett gefochten hatte. Es war jener Juli mit dem Kälteeinbruch gewesen, und sie hatten sich mit dem täglichen Fechten oder manchmal beim Kegeln auf der Bahn am Schwimmteich erwärmt.
    Die Wege hatte man teilweise verbreitert – vor allem jene, die zu den diversen Heilbrunnen führten –, einige jedoch waren von Gras überwachsen, beinah unsichtbar geworden. Der kleine Ort, in dem es früher bloß die beiden Hotels und das Telegraphenbüro gegeben hatte und ein paar hüttenartige Dependancen, hatte sich ausgebreitet, aber seine drei oder vier Lieblingsbänke standen immer noch. Die Bank hinter dem Hotel, wo ein Wanderweg steil den Hang hinaufführte, war allerdings nach hinten eingesunken; wenn er sich setzte, konnte er sich nur mit Mühe wieder herausstemmen.
    Während der Bahnfahrt neulich von Buchs, wohin der Carl ihn gebracht hatte, nach Zell am See hatte er nachgedacht, wann er zum letzten Mal die Wandertour von Bad Fusch nach Ferleiten unternommen hatte.
    Er schlug das mitgebrachte Buch auf, eine Auswahl von Henry James’ Erzählungen, die sein Sohn Raimund von irgendwoher mitgebracht, aber wohl nicht gelesen hatte. Auf dem Vorsatzblatt ein mit lila Tinte geschriebener Besitzervermerk, Peter Slater. Er hatte das Buch mit ein paar anderen Büchern in die Schweiz mitgenommen, weil es sich bei dem Autor um den Bruder des Psychologen William James handelte, dessen Werke er seit langem schätzte. Mitten in dem Band, zwischen zwei Seiten, klebte ein zerdrücktes Insekt. Nach dem Frühstück hatte er sich aufs Bett gelegt und die Erzählung
The Lesson of the Master
zu lesen begonnen:
He had been informed that the ladies were at church
… Es hatte ihm wohlgetan, an der sicheren Hand des Autors in die Geschichte hineingezogen zu werden. Aber er sollte sich jetzt mit etwas anderem beschäftigen.
    Wahrscheinlich war es verrückt, wieder hierher zu kommen; ein Fehler womöglich schon, nach Graubünden gereist zu sein, die Zeit dort mit dem Freund … Wohin? Wohin denn? Der Gedanke, der Sommer und der Herbst, die einzige Zeit, in der er anhaltend arbeiten konnte, verflögen ergebnislos wegen einer verfehlten Ortswahl, durch lang anhaltende atmosphärische Störungen, verstimmte ihn heftig. Er war gereizt gewesen in dem schönen Schweizer Bergdorf. Sogar den guten Carl, der ihm einer der Vertrautesten geworden war und mit dem er sich ja unbedingt in diesem Sommer hatte treffen wollen, Carl, der nach langem Überlegen Lenzerheide vorgeschlagen hatte, sogar Carl hatte er dieses Mal zeitweilig nicht ausgehalten. Am liebsten war er in seinem Hotelzimmer gesessen, vor seinen Manuskripten oder in Eckermanns
Gespräche mit Goethe
lesend, was auf ihn von jeher anregend gewirkt hatte. War er mit dem
Timon
nicht weitergekommen, so hatte er die Mappe mit dem
Turm
aufgeschlagen, den fünften Akt, und dann wieder den
Timon
. Die Gespräche mit Carl, dem er einiges aus dem ersten Akt vorgelesen hatte, waren diesmal wenig hilfreich gewesen.
    Andererseits ging ihm, seit er Carl vor Wochen ausführlich davon erzählt hatte, der
Andreas
-Roman nicht aus dem Kopf. Walther Brecht hatte ihn auf den
Ardinghello
von Heinse aufmerksam gemacht, ihm auch seine Heinse-Studie geschickt. Wenn er in Lenzerheide nichts hatte tun können, wenn seine Phantasie blockiert war, hatte er für das
Andreas
-Projekt Notizen auf ein Blatt geschrieben. Es
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