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Der Fliegenpalast

Der Fliegenpalast

Titel: Der Fliegenpalast
Autoren: Residenz
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ich damals auswendig gekonnt: Eine Menge Verse vom Lenau, einige fielen ihm immer noch ein:
    Sahst du ein Glück vorübergehn
    Das nie sich wieder findet
    Ist’s gut in einen Strom zu sehn
    Wo Alles wogt und schwindet …
    Jener Sommer, als ihm die Gedichte wie von selbst in den Sinn kamen … Einmal, ohne Bleistift, hatte er im Gehen zwei Terzinenzeilen ununterbrochen im Kopf memoriert, damit sie sich nicht genauso schnell verflüchtigten, wie sie erschienen waren. Die Trauer über den Tod der Frau von Wertheimstein hatte alles in ein wehmütiges Licht getaucht. Daß sie bald ausgelebt haben würde, war ihm nach seinem letzten Besuch in Döbling klar gewesen. Als dann das Telegramm von Franziska Gomperz gekommen war, kurz bevor er mit seinen Eltern von Wien in die Sommerfrische abgereist war, hatte es ihn doch schwer getroffen.
    Er öffnete den Brief von Gerty: Ein Blatt von ihr und ein Brief, den der Rudolf Borchardt an die Christiane geschrieben hatte. Wie sehr liebte er die Handschrift seiner Frau, alle diese Zettel hob er in seiner Brieftasche auf.

AN WEN erinnerte der junge Mann ihn, dem er am Ortsausgang zum zweiten Mal begegnet war, dort wo die Straße in zwei Spazierwege mündete, die sich nach einer Weile ihrerseits verzweigten? Er befand sich auf dem Heimweg von einer kleinen Vormittagswanderung zur Augenquelle, wo er auf einer Bank, die Pinzgauer Tauerngruppe vor sich, einiges auf seinem Schreibblock notiert hatte. Gegenüber der Kirche ließ er sich wieder auf einer Bank nieder, inmitten des Rondells, das die sechs mächtigen Kastanienbäume bildeten. Auf einmal fiel ihm ein, was er vorige Woche in Lenzerheide notiert hatte: Im
Timon
eine Szene mit einer Hetäre einzubauen, ausgehend von der Rede der Diotima in Platons
Symposion
. Am Abend wollte er die Gerty in Aussee anrufen, ihr sagen, daß er den Platon brauche, wenn er demnächst mit dem Schreibzeug nach Altaussee übersiedeln werde.
    Der junge Mann mit seinem auffällig kurzen Haarschnitt war von dem steilen, in Zick-Zack-Wendungen herunterführenden Weg, dem Kasereckweg, gekommen, den er in jungen Jahren selber oft hinaufgewandert war, mehrmals jedes Jahr, meistens mit dem Vater. In der Riedelalm dann Milch und Butterbrot. Auch dieser Junge war offensichtlich mit seinen Eltern hier abgestiegen. Gestern abend hatte er im Speisesaal des Hotels die im hinteren Teil sitzende Familie beobachtet. Alle drei Personen an dem Tisch waren ihm bekannt vorgekommen, besonders der Herr im mittleren Alter. Als er seine Brille endlich gefunden hatte, hatten sie ihre Plätze jedoch schon verlassen gehabt.

EINIGE MALE war er schon in der dem Bischof Wolfgang von Regensburg geweihten Kirche gewesen, in der er als Kind andächtig gesessen war; die vielen brennenden Kerzen machten den schmalen Innenraum zu einer Höhle, in der man sich gerne niederließ. Manchmal hatte er ein paar Heller in den Schlitz der massiveisernen Büchse gesteckt, eine Kerze genommen, sie an einer brennenden angezündet und auf eine leere Nagelspitze gesteckt. Und sich dann gewünscht, daß es aufhören möge zu regnen, daß es der Mama wieder besser gehen möge, daß er das Taschenbuch mit den d’Annunzio-Essays, das er am Tag davor auf einer Bank hatte liegen lassen oder das ihm unbemerkt irgendwo hinuntergefallen war, wiederfinden würde. Oder daß ein Gedicht ihm gelingen möge … Vor zwei Tagen hatte er hier nach so vielen Jahren wieder eine Kerze angezündet und nicht gewußt, was er sich wünschen sollte; er hatte sich dann mit der brennenden Kerze in der Hand geniert, als zwei Leute eintraten, hatte sie aufgesteckt, sich bekreuzigt und das Kirchlein verlassen. Diesmal sah er einen jungen Mann in Kniehosen und Wollstutzen in der hintersten Bank knien und beten. Die Tür im hohen Eisengitter war geöffnet. Durfte er sich wünschen, daß die Arbeit, das Schreiben vonstatten gehen möge? Aber warum nicht? Worum die Menschen in den Kirchen nicht alles bitten! An der linken Wand hing ein entsetzlich abgeschmacktes Marienbild. Das Bilderverbot der Muslime – manchmal wünschte man es sich. Wieviel gab man jetzt? Ein Satz fiel ihm ein, wo gelesen?: Die Götter seien nur deshalb nicht mehr vorhanden, weil keiner sie anrufe … Er nahm ein paar Scheine aus der Brieftasche, tausendfünfhundert Kronen, das musste genügen, und zündete eine Kerze an. Es dauerte eine Weile, bis der Docht zu brennen anfing. Jetzt erhob der junge Mann sich, blickte ihn an, blieb stehen, als wolle auch er eine
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