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Der Fliegenpalast

Der Fliegenpalast

Titel: Der Fliegenpalast
Autoren: Residenz
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war ihm schon vor langer Zeit bewußt geworden, daß der italienische Teil des Romans auf eine Weise ausuferte, die das Ganze möglicherweise ruinierte; trotzdem füllte er weiter Blatt um Blatt mit Exzerpten und Notizen. Vielleicht sollte er Ernst machen mit seiner Idee, im Spätherbst nach Syrakus zu gehen und dort am Roman zu arbeiten. Syrakus war für ihn der Höhepunkt ihrer Sizilienreise im Frühjahr gewesen, ein wunderbares Geburtstagsgeschenk, das er sich selber gemacht hatte. Oft deprimierte ihn der Gedanke, ja beinah die Einsicht, daß alle drei großen Arbeiten Fragment bleiben könnten, beide Theaterstücke, der Roman.
    Also, wo waren wir? Er nahm die beiden obersten Blätter aus der Mappe. Das Exposé für den
Timon
. Es war ein Vorschlag Carls gewesen, alles Bisherige einmal knapp zusammenzufassen. Carl hatte es dann anhand ihrer Gespräche über das Stück in seiner feinen Handschrift notiert. Wenn er sie länger anschaute, wurde ihm beinah ein wenig schwindlig. Das war am Tag vor dem Ausflug ins Oberengadin gewesen, währenddessen plötzliche Herzbeschwerden ein Umkehren erzwungen hatten, was Carl furchtbar erschreckt hatte.
    Ich bräuchte, dachte er, jemanden wie den Grafen Harry Kessler, einen überlegenen Geist; mit ihm ein paar Tage in Klausur, wie damals beim
Rosenkavalier
, das würde mein lahmes Assoziieren vielleicht beleben. Wie sehr hatte er sich unlängst gefreut über den Brief von Kessler, nach langjährigem Schweigen. Meine Nerven, dachte er, meine Neurasthenie haben sein stürmisches Temperament und seine Eitelkeiten schließlich einfach nicht mehr ausgehalten. Dabei war Kessler ja außerdem ein eminent politischer Kopf, den der Stoff dieser politischen Komödie sicherlich angeregt hätte.
    Am
Timon
hatte er in Lenzerheide außer Notizen nichts geschrieben. Wenigstens hatte er das umfangreiche Buch von Pöhlmann,
Sozialismus im Altertum
, gelesen, Carls Exemplar, und Carl hatte ihn aufgefordert, ungeniert mit dem Bleistift herumzustreichen und Anmerkungen zu machen.
    Er hatte wohl in der Früh vergessen, seine Taschenuhr aufzuziehen: Sie zeigte 14 Uhr 37, dabei mußte der Nachmittag weit fortgeschritten sein. Und er dachte an seine Familie, die nun schon bald einen Monat das Häusl in Altaussee bewohnte. In Kürze jedenfalls würde auch er sich an dem vertrauten Ambiente Aussees erfreuen, wenn das Wetter es zuließ, bis in den November hinein. In seiner Ausseer Kammer hatte er immer am besten arbeiten können.

IM FOYER , auf dem Weg zum Schalter des Portiers, begegnete ihm der dicke Priester, den er am Vorabend zum ersten Mal allein an einem Tisch im Speisesaal hatte sitzen sehen. Er erwiderte dessen freundliches Kopfnicken. Dabei fiel ihm ein, daß er endlich Professor Pauker, dem Chorherrn von Klosterneuburg, antworten mußte – wenn es auch bloß eine Ansichtskarte war, die dieser ihm aus seinem Sommerdomizil Sankt Gilgen geschickt hatte. Pauker sollte nicht denken, er habe ihn vergessen – nachdem er sich so dafür eingesetzt hatte, daß
Das Salzburger große Welttheater
trotz andauernder Angriffe einer antijüdischen Hetzjournaille endlich in der Salzburger Kollegienkirche hatte aufgeführt werden können. Anfangs war er etwas enttäuscht gewesen, daß Pauker nicht direkt seinen Einfluß bei der Erzdiözese geltend gemacht hatte; Paukers Artikel in der
Reichspost
hatte jedenfalls gewirkt, der Erzbischof und das Domkapitel hatten nachgegeben.
    »Ihre Post wäre da, Herr Doktor …«, sagte der Portier übertrieben diskret, kein Mensch befand sich in der Nähe. »Wollen Sie sie jetzt gleich mitnehmen?« Und er beugte sich hinter der Theke hinunter, legte einen dicken Packen vor ihn hin.
    Hoffentlich war der Marcel Schwob dabei; er hatte seine Frau gebeten, sie möge ihm den Band aus der Bibliothek der Oppenheimer in Altaussee schicken. Diese skurrilen, sehr poetischen, teilweise fiktiven antiken Lebensläufe, dachte er, könnten helfen, besser in das Zeitalter des
Timon
hineinzufinden. Die Bergstraße, sagte ihm der Portier noch, sei wegen eines Felssturzes bis auf weiteres gesperrt. Der Postfahrer habe den Sack von dort weg nach Bad Fusch heraufgeschleppt. Er steckte vier Briefe in die Tasche und schob dem Portier den restlichen Packen wieder hin; er mache jetzt vor dem Abendessen noch einmal einen Spaziergang.
    In all den Jahren hatten sie die schmale Bergstraße vom Fuscher Tal herauf also immer noch nicht genügend befestigt, so wie etwa am Semmering. Er erinnerte sich, wie er
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