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Der Fliegenpalast

Der Fliegenpalast

Titel: Der Fliegenpalast
Autoren: Residenz
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… Das Aroma der Orangen hatte ihn einen Moment lang nach Syrakus versetzt, wo sie in einem Lokal etwas probiert hatten, wovon er noch nie gehört hatte: eine
insalata di agrumi
, aus Zitrusfrüchten also.
    Soglio, dieses entzückende Bergstädtchen … An den Ausflug mit Carl vor zehn Tagen in dessen Automobil erinnerte er sich gern, und an den Abstecher nach Chiavenna. An das Gästebuch im
Palazzo Salis
in Soglio, wo sie eine Eintragung von Rilke gefunden hatten, dem sie nach dem Essen eine Ansichtskarte schrieben. Sie hatten auch überlegt, Rilke ein andermal in seinem Chateau bei Sierre oder Sion zu besuchen.
    Aus der Kirche kamen zwei Frauen, wandten ihm im Gehen die Köpfe auffällig zu, grüßten jedoch nicht. Wenn die Kirche jetzt geöffnet war, würde er auf dem Rückweg hineinschauen.
    Die Nachmittagssonne hatte die meisten Wolken aufgelöst. Vorsichtig überstieg er den Zauntritt am Ortsende. Als er auf den Wiesenweg hinauskam, hörte er das Gebimmel von Kuhglocken. Die Vorstellung wieder, er müsse den
Timon
wie so vieles in den letzten Jahren aufgeben. Das Konvolut in einer dicken Mappe verschnüren, ein Jahr lang wenigstens aus dem Gedächtnis streichen. Und der Gedanke manchmal, wie der Sebastian Isepp mit seiner Malerei einfach aufzuhören mit dem Stückeschreiben, überhaupt aufzuhören, nur noch Eintragungen ins Tagebuch. Wovon leben? Journalismus? Das Angebot der amerikanischen Verlagsgruppe annehmen, als eine Art Europa-Korrespondent zu arbeiten?
    Er sah einen Bauern mit Heugabel auf der Schulter, der seitlich die Wiese herabstieg; in einiger Entfernung rannten zwei Kühe hinter ihm her. Er blieb stehen, befürchtete schon, die näher kommenden Kühe oder gar Stiere würden den Mann auf die Hörner nehmen. Sobald sie den Bauern, ihren Bauern wohl, erreicht hatten, trennten sie sich, trotteten an seiner Seite, eine links, eine rechts.
    Die Bretter der Bank, von wo man einen Blick aufs Embachhorn hatte, waren bereits trocken. Jenen ebenen langen Waldweg hatte er noch nicht wieder gefunden, den er als junger Mensch so gern gegangen war, wenn er im Gehen Ergänzungszeilen zu einem Gedicht in seinem Kopf herumgewendet hatte; er wußte nicht einmal mehr, in welchem der Fuscher Waldgebiete dieser Weg sich befand. Womöglich erreichte er ihn über jenen Weg, der über die Fürstenquelle hinausführte, hinauf bis zu den Hochalmen. Die Bäume dieses Waldes waren bis weit hinauf ohne Äste gewesen, beim Gehen war es ihm jedes Mal vorgekommen, als befände er sich in einer weitläufigen Kathedrale. Jetzt mußte er sehen, ob er den Weg fand, mußte systematisch vorgehen. Fünfundzwanzig Jahre her, fünfunddreißig, wer weiß, ob dieser Wald inzwischen nicht völlig zugewachsen war von den damals jungen Fichten und Tannen. Aber ebene Wege mußten es nun für ihn sein. Auf die Berge, über die steilen Hänge hinter dem Kurhaus konnte er nicht mehr klettern.
    Sobald er auf der Bank saß, legte er seinen Hut ab, mit dem Taschentuch wischte er den Schweiß von Stirn und Hals. Er nahm sich vor, Carl im nächsten Brief zu bitten, ihnen ein paar Orangen mitzubringen, wenn er im Herbst zu Besuch nach Aussee kam; in Wien waren schon lange keine mehr zu kriegen. Auf dem Wiesenboden lagen hergewehte Blätter. Ein wenig früh, aber der Herbst begann hier heroben einige Wochen früher als in den Tallagen. Wie schön, und wie eigenartig, das feine und grobe Nervengeflecht des Blattes. Eines der Blätter war angefressen, von einem Käfer oder einer Raupe? Linkerhand sah er auf dem Boden die silbrig-durchsichtige Schleimspur einer Schnecke. Es war wohl doch ein Ahornblatt. Wie vollkommen das organisiert war, der Transport der Säfte von den Wurzeln bis zu den Blattspitzen.
    Beim Frühstück hatte er gehört, wie sich am Nebentisch zwei deutsche Herren in Sportsakkos, um die vierzig, die wie Zwillinge aussahen – wie kamen die bloß nach Bad Fusch? –, über die Ausreisegebühren unterhielten; er hatte gehört, daß diese Steuer bis zu zwanzig Goldmark betragen konnte. Der Carl würde es als Schweizer Gott sei Dank viel leichter haben, nach Österreich einzureisen.
    Der vierte Tag in der Fusch. Wenn er selbstvergessen herumspazierte, bei einem Brunnen stehenblieb, sich hinunterbeugte und trank, fühlte er sich für Momente in einer geisterhaften Gesellschaft: Er sah sich selbst vor zwanzig, vor dreißig und mehr Jahren hier allein herumgehen, Gedichtzeilen entwerfend, Gedichte rezitierend.
    Wie viele Gedichte, dachte er, hab
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