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Der fernste Ort

Titel: Der fernste Ort
Autoren: Daniel Kehlmann
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ihm Tränen in die Augen traten. Die Sitze waren mit abgewetztem Stoff bezogen, in einem Abfallbehälter stapelten sich Blechdosen. Ein dicker Mann sah ihn mit wäßrigem Blick an. Die Waggontür öffnete sich, und der Schaffner kam herein. Julian erschrak so sehr, daß ihm das Atmen schwerfiel. Daran hatte er nicht gedacht.
    Ob man ihn jetzt einsperren würde? Am besten, er gab alles zu oder behauptete, er hätte sich verirrt oder sei verloren worden. Der Schaffner kam näher, der dicke Mann nestelte seine Geldbörse hervor und kaufte ihm einen Fahrschein, der Schaffner nickte, leckte sich die Lippen und ging weiter. Draußen stiegen und sanken die Drähte, ein See blitzte auf wie eine Täuschung.
    »Nichts zu danken«, sagte der Dicke. Er war blaß, hatte schlaff herabhängende Wangen, hervorquellende Augen und eine zerknitterte Jacke. Aber er sah freundlich aus. »Falls du nicht weißt, wo du hin sollst …«
    »Nein danke«, sagte Julian schnell.
    »Ich bin auch einmal weggelaufen. Du kannst zu mir. Ich weiß, wie das ist.«
    »Ich bin nicht weggelaufen!«
    »Na gut. Sicher!« Eine Weile starrte der Dicke vor sich hin; als der Zug hielt, erhob er sich, ging mit schleppenden Schritten zur Tür und stieg aus. Julian sah ihn noch draußen über den Bahnsteig schlurfen, sehr schwer und langsam, traurig lächelnd, dann fuhr der Zug an. Es dämmerte, die Hügel wurden zu scharfgeschnittenen Umrissen. Und dann kämpfte sich Julian durch einen Schneesturm, Flocken trieben vorbei, er kam nicht weiter, stolperte und fiel, er riß die Augen auf, der Waggon war nun fast leer. Bei der nächsten Station stieg er aus.
    Es war nur ein kleiner Bahnhof, der Name auf der Tafel war ihm unbekannt, auch hier gab es den Mann in Uniform, Teil Zwei . Er setzte sich auf eine Bank. Menschen standen neben Koffern, ohne sich zu bewegen, ein Mann lehnte an einem Imbißwagen, niemand sprach. Er wartete. Niemand sprach oder rührte sich.
    Er beugte sich vor. Über den Schienen strahlten Rotlichter, etwa hundert Meter entfernt stand ein Zug. Auf den Gleisen gegenüber lagen Zigaretten, Stoffetzen, eine verformte Kugel, ein Sack. Und eine Hand.
    Er kniff die Augen zusammen, der Momentdauerte an, wollte nicht vorbeigehen. Es war ein kleines Ding, fünffingrig und weiß, das unter seinem Blick noch einmal und dann noch einmal zu einer Menschenhand wurde.
    Und der Moment verging doch. Und jetzt war der Sack ein Oberkörper, und aus dem Schatten tauchten, wie aus einem Vexierbild, zwei Beine auf. Und die verformte Kugel war ein Kopf. Gesichtslos, haarlos, ein unbegreiflich fremder Gegenstand. Aber ein Kopf.
    Ein Säugling stieß einen fröhlichen Schrei aus. Eine Durchsage blökte aus dem Lautsprecher, war nicht zu verstehen, verhallte. Es war der Zug auf der Gegenseite gewesen, und alle hier mußten es gesehen haben, eben erst, bevor er angekommen war. Julian rieb sich die Stirn, seine Hände fühlten sich an wie aus Metall, es fiel ihm schwer, die Finger zu bewegen. Ein Polizist ging mit großen Schritten vorbei, blickte um sich, schien nach etwas zu suchen. Julian blinzelte. Er beschloß, daß es ein Traum sein mußte, eine Einbildung oder Erfindung, nichts, das Bedeutung hatte, und daß die kalte Starrheit in seinen Gliedern andere Gründe haben mußte oder keine; mit einem Ruck stand er auf. Eine Frau sah ihn vorwurfsvoll an. Mit allerKraft brachte er es fertig, sich abzuwenden und loszugehen.
    Und dann hatte er sich wohl vom Bahnhof entfernt. Denn als nächstes, als hätte dieser Anblick einige Minuten aus seiner Erinnerung oder aus der Zeit selbst gelöscht, fand er sich auf einer Bank, in einem Park, zwischen einem Reiterdenkmal und einem abgeschalteten Brunnen. Ein Mann in einem Overall zog pfeifend einen Rechen hinter sich her. Dann wurde es still.
    Es ging kein Wind, es regnete nicht mehr, und seine Jacke hielt ihn einigermaßen warm. Nur an ein paar Stellen zeigten sich Sterne, winzig und so weit entfernt, daß sie kaum wirklich schienen. Hatte er das tatsächlich gesehen – einen toten Körper, zerteilt, dort auf den Schienen? Schon jetzt kam es ihm fern vor, nicht recht glaubhaft, es paßte nicht zu den anderen Dingen, zu diesem Tag, zu Schule, Cornflakes und Straßenbahn, zu den Erbsen zu Mittag. Aber noch immer waren seine Glieder starr, noch immer zitterten seine Hände.
    Nun war auch der Mond zu sehen, matt und nicht ganz sauber. Er rieb sich die Augen. Hatte er geschlafen? Und dann sah er wieder diese Hand vor sich und wußte,
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