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Der fernste Ort

Titel: Der fernste Ort
Autoren: Daniel Kehlmann
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Die Haustür fiel hinter ihm ins Schloß.
    Es war noch dunkel, erst in einer halben Stunde würde die Sonne aufgehen. Vor ihm war ein Haufen trockener Blätter, er ging mitten hindurch, es gefiel ihm, wie das Laub in alle Richtungen flog. Dann mußte er laufen, um die Straßenbahn noch zu erreichen; er stieg keuchend ein und bemühte sich, dem Blick von Peter Bohlberg auszuweichen, der grinsend, mit seinem runden Muttermal auf der Stirn, in der letzten Reihe saß. Während der Fahrt wäre er fast wieder eingeschlafen, Hauswände, Plakate, Laternen ruckelten an den Fenstern vorbei, noch kaum wirklich im kalten Frühlicht.
    Er stieg aus und blickte an der Fassade der Schule hinauf. Ihre vom Regen schwarze Mauer, dieschwer zu bewegende Eingangstür, die Kunststoffböden und der Geruch nach Pullovern und Reinigungsmitteln. Die erste Stunde, Mathematik. Dr. Möhlbrand hatte einen Schnurrbart und lispelte, seine Hand zitterte beim Schreiben: an der Tafel Zahlen, die sich, murmelte man sie halblaut vor sich hin, anfühlten, als ob man altes Knäckebrot aß. Dann Buchstaben, die aber zu gerade, zu säuberlich waren, um echte Buchstaben zu sein. Aus dem Schwamm rann dunkles Wasser, langsam füllte sich das kleine Metallbrett, auf dem er lag; vor dem Fenster bewegte sich eine Baumkrone, unter der Tischplatte klebten von den Jahren gehärtete Kaugummis, die Zeiger der Wanduhr zogen unendlich langsam ihren Kreis. Er würde noch acht Jahre hierherkommen müssen, eine Zeitspanne fast so lang wie sein ganzes Leben, und dabei schien es ihm doch, als ob er immer gelebt hatte. Thule, sagte die Deutschlehrerin, so nannte man früher den jeweils abgelegensten Teil der Welt. Ultima Thule , der fernste Ort. Heute setzt man Thule mit Norwegen gleich, wißt ihr, wo Norwegen ist, und über das unbekannte Gebiet auf den Karten schrieb man hic sunt dragones , hier wohnen Drachen, aber das glaubt heute niemandmehr, Drachen gibt es nicht, und alle Orte sind erforscht. Bis übermorgen lernt ihr das Gedicht Es war ein König in Thule , und dann erklärt ihr mir … Die Glocke unterbrach sie, und obwohl er sitzen blieb, vorgebeugt und aufmerksam, sprach sie nicht weiter.
    Während er auf die verspätete Straßenbahn wartete, fing es an zu regnen. Dann kam sie doch, er stieg ein, und als sie gerade losfuhr, riß Peter Bohlberg ihm die Schultasche weg. Er wollte sie festhalten und spürte Peters Arm um seinen Hals; er fiel, der gerillte Boden prallte hart und schmutzig gegen seine Handflächen. Eine Frau quiekte empört, ein bärtiger Mann rief »Na na!«, und während sein Kopf auf dem Boden lag, hörte er das Geräusch der Räder auf den Schienen, Tonnen von Metall, die sich gegeneinander preßten, und ein angebissener Apfel rollte sehr langsam an ihm vorbei. Er stieß seinen Ellenbogen in Peters Magen, einmal, noch einmal, selbst erschrocken wie fest, noch einmal; der Griff um seinen Hals wurde schwächer, die Bahn hielt, es war schon die nächste Station. Julian riß sich los, griff nach seiner Tasche und sah Peter zurücktaumeln; erst einen Moment später begriff er, daß er selbst ihn gestoßen hatte.Er sprang hinaus, der Bärtige rief noch etwas, aber die Türen hatten sich wieder geschlossen, und er verstand es nicht mehr, schon fuhr die Bahn los. Auf dem Milchglasvordach trommelte der Regen, er stellte sich darunter und wartete. Er wußte, das Schlimmste lag noch vor ihm.
    Das Mittagessen. Seine Mutter saß ihm gegenüber und sah ihn zerstreut an. Dann lächelte sie, und er versuchte zurückzulächeln und wußte, daß sie sich jetzt fragte, warum er nicht war wie sein Bruder, und aus irgendeinem Grund wollte ihm der Apfel in der Bahn nicht aus dem Kopf gehen. Sie stand auf und ging nebenan auf und ab, er hörte sie Gegenstände nehmen und wegstellen, einmal fiel etwas hinunter, dann telefonierte sie, sehr schnell, mit gepreßter Stimme und so leise, daß ihre Worte auch dann nicht zu verstehen waren, wenn man sein Ohr gegen die Tür preßte und den Atem anhielt. Auf seinem Teller lagen ein Kotelett, Erbsen und ein Häufchen Kartoffelpüree. Wenn man die Gabel darin drehte, nahm es immer eigentümlichere Formen an. Eine Erbse rollte davon, fiel über die Tischkante, er folgte ihr mit den Augen, verlor sie und fand sie drüben in der Ecke wieder. Noch Jahre später sollte er sichdort sitzen sehen, die Tür betrachten, den Teller, das Fenster, wieder den Teller, die Erbse.
    Und dann sah er sich aufstehen und gehen.
    Im Flur nahm er seine Jacke
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