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Der fernste Ort

Titel: Der fernste Ort
Autoren: Daniel Kehlmann
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hatte sich ein pfeifender Ton gemischt. Hinter den Hügeln sah er einen spitzen Berg, der ihm noch nicht aufgefallen war; er blinzelte und konnte ihn schon nicht mehrfinden. Der Schmerz in seinen Armen war stärker geworden. Er mußte langsamer schwimmen, er durfte keinen Krampf bekommen; ein Krampf, das hatte er gelesen, war gefährlich. Er strich sich die Haare aus dem Gesicht. Er hörte sich keuchen. Etwas griff nach seinem Fuß.
    Aber es war nur eine kalte Strömung. Trotzdem kam er aus dem Rhythmus, das Wasser schlug über seine Augen, sein Atem ging hastig. Er schwamm mit aller Kraft und fühlte, daß etwas ihn festhielt. Das Ufer näherte sich nicht. Er machte hektische Bewegungen, schnappte nach Luft, schluckte Wasser und bekam einen Hustenanfall, spuckte. Und wieder spürte er den Griff nach seinen Beinen; er riß die Arme hoch, die Geräusche verstummten, kehrten wieder, verstummten, und er spürte, wie er sank.
    Speere aus Licht, schräg in die Tiefe fallend. Ein grüner Schein, der in Dunkelheit überging. Ein Fisch schnellte vorbei. Ein Baumstamm, verästelt noch, aber schon halb aufgelöst, umspannt von dünnen Fasern.
    Er riß sich los, kam wieder nach oben. Sog Luft ein, hustete, spuckte, und auf einmal war ihm klar, daß es um alles ging. Zum ersten Mal schien dasUfer näher gerückt. Er konnte gerade noch die Luft anhalten.
    Ein Schwarm wirbelnder Flecken, Fische vielleicht oder auch Blätter, die geraden Lichtstrahlen, ein Würfel aus Metall, ein weggeworfener Kühlschrank, dessen Tür offenstand, überzogen mit Rost. Er kämpfte. Strampelte, als hielte ihn ein stärkerer Gegner fest; sehr weit über sich sah er die Wasseroberfläche, ein fernes Flimmern. Er strampelte, stieg oder sank, er wußte es nicht, schluckte Wasser, sein Herz bäumte sich auf, er schluckte mehr und stieg auf und streckte die Arme aus, und plötzlich begriff er, daß es die falsche Richtung war. Etwas berührte seinen Hals, weich und fast angenehm, der Arm einer Schlingpflanze, er wollte sie abstreifen, schlug danach, wollte schreien, aber das war nicht möglich, und mit einem Mal war alles umgefaltet: Der Himmel hing unter den in die Tiefe gekrümmten Umrissen der Berge, und er spürte, daß er aufstieg, dem Gras zu, dem sich zersetzenden Baumstamm, den langen Halmen, den Schlingpflanzen, dem Kühlschrank; ein Schwarm Fische änderte zuckend seine Richtung. Er fühlte noch die Taubheit, die durch seinen Körper rann …
    Dann nichts mehr.
    Jemand fragte etwas, er antwortete. Er bewegte sich durch ein Labyrinth von Spiegeln, zu vielen davon, und aus jedem blickte sein Bild. Um ihn wuchsen Pflanzen, aufwuchernd und fett, die er noch nie gesehen hatte. Fragen in einer Sprache, die ihm bekannt vorkam, aus der er aber nicht übersetzen konnte, wie Musik oder reine Gedanken, er versuchte zu antworten, aber er verstand seine Antwort nicht, er versuchte es noch einmal. Und plötzlich begriff er.
    Er öffnete die Augen.
    Eine Ameise betastete einen Grashalm, auf dem ein Wassertropfen glitzerte. Sie kletterte hinauf, der Halm schwankte unter ihrem Gewicht, ein Windstoß ließ ihn zurückfedern. Wenn man den Tropfen scharf ins Auge faßte, wurde die Sonne darin rund und deutlich. Eine Biene flog auf; durch die Grashalme war das Blau des Himmels zu sehen. Die Biene flog an seinem Kopf vorbei, ihr Brummen kam ihm sehr laut vor; sie landete, verblaßte und löste sich in Luft auf. Plötzlich mußte er sich übergeben.
    Wellen von Krämpfen schüttelten ihn, immer wieder und wieder. Dann war es vorbei, er wolltesich aufrichten, aber er war zu schwach, ein Schwindelanfall warf ihn von neuem zu Boden. Seine Knie fühlten sich weich und nachgiebig an, es dauerte lange, bis er auf die Füße kam. Dort drüben, kaum auszumachen ohne Brille, mußte das Hotel sein, darunter die Stelle, von der er losgeschwommen war. Er wußte noch, daß die Strömung ihn hinuntergezogen und daß er gekämpft und dann aufgehört hatte zu kämpfen; und da tauchten Bilder vor ihm auf, Bruchstücke von Erinnerungen, er wußte nicht, woher. Ein fast leeres Kaffeehaus, ein Raum voll tanzender Menschen, ein Eisenbahnwaggon in der Nacht, ein Schneesturm und eine ferne Küstenlinie. Aber vor allem: Wie war er ans Ufer gekommen?
    Er hatte Kopfschmerzen. Sein Atem ging in kurzen Stößen, seine Brust war eingeschnürt. Die Halme wichen vor ihm zurück, Mücken tanzten in der Luft, ihm war, als ginge er durch einen Traum. Seine Hände und Knie zitterten, Steine schnitten in
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