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Der fernste Ort

Titel: Der fernste Ort
Autoren: Daniel Kehlmann
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Brieftasche, der leere Notizblock, auf dem jetzt sein Vortrag hätte stehen sollen, zwei Kugelschreiber, seine Armbanduhr. Er öffnete die Brieftasche. Es war genug Geld darin; er tauschte immer zuviel um, wenn er verreiste, für Notfälle, die er sich nicht klar vorstellen konnte, aber diesmal war es gut so. Im zweiten Fach steckte noch immer ein Foto von Andrea und ihm. Aufgenommen vor einigen Monaten,an einem regnerischen Wochenende, das sie in einer Pension auf dem Land verbracht hatten: Zerdehnte Nachmittage, lange Spaziergänge, unendliche Abende vor dem Fernseher und nachts, wenn er es fertiggebracht hatte, für ein paar Stunden einzuschlafen, die immer gleichen Träume von Wüsten, von Dünen unter mehreren Sonnen, von einem verfärbten Meer.
    Er ging ins Badezimmer und trocknete sich ab. Er durfte sich nicht erkälten! Es war weniger ein Entschluß als ein Wissen, weniger Wissen als ruhige Klarheit: Er würde es tun.
    Er zog sich an. Hose, Hemd und Pullover, das Jackett ließ er im Schrank, sein Fehlen hätte auffallen können. Zum Glück hatte er ein zweites Paar Schuhe dabei. Aus seiner Brieftasche nahm er zwei Geldscheine; für das Zugticket würden sie reichen, dann mußte er eine Möglichkeit finden, an mehr zu kommen. Er nahm den Schlüssel seiner Wohnung und legte seinen Paß neben die Brieftasche, die Uhr und das Foto.
    Er blickte zum Fenster. Es dämmerte schon, die Hügel standen dunkel vor dem Himmel, im Wasser zerrann das letzte Rot. Mehrere Boote bewegten sich darauf, in regelmäßigen Abständen voneinander,als ob sie nach etwas suchten. Aber nicht nach ihm, jetzt noch nicht. Auf dem Parkplatz unter dem Fenster kniete ein Mann neben einem Auto. Julian wandte sich ab. Im Wandspiegel sah er das Bett, den Tisch, die offene Tür zum Badezimmer. Das Telefon läutete.
    Er streckte die Hand nach dem Apparat aus und zog sie zurück, es läutete wieder. Er sah das Telefon an, sah zum Fenster, sah an die Decke, es läutete wieder. Er nahm seine Badehose, öffnete die Tür, trat hinaus, zog den Schlüssel ab und ging zur Treppe und hinunter in den ersten Stock. Er hörte Stimmen und blieb stehen, aber sie entfernten sich; er lief weiter ins Erdgeschoß. Den Gang entlang – nach rechts, nein, das war die falsche Richtung, nach links! Er stieß die Tür auf und trat ins Freie.
    Die Luft war warm und trocken, bald würde es dunkel sein. Er preßte die Badehose an sich. Das mußte ziemlich lächerlich aussehen, aber der Mann neben dem Auto kümmerte sich nicht um ihn. Er drehte sich langsam, fand die Richtung und begann zu laufen. In zwanzig Minuten würde er am Bahnhof sein.
    Er sah auf seine Schuhe hinunter, spürte den harten Boden unter seinen Füßen. Neben ihm zogendie Pinien wie dunkle Säulen vorbei, ein Auto überholte ihn: zwei Rückscheinwerfer, schrumpfend, eben noch sichtbar, jetzt schon nicht mehr. Sein Körper kam ihm schwerelos vor, sein Atem ging gleichmäßig, am liebsten wäre er immer so weiter gelaufen. Egal wohin. Nur immer weiter.

II
    Zum ersten Mal weggelaufen war er mit elf Jahren. Es war ein gewöhnlicher Morgen gewesen. Aus dem Schlaf gerissen vom Geräusch des Weckers: für einen Moment noch Teil des Traumes, dann schon etwas, das ihn davon trennte, und dann war ihm der Traum aus dem Gedächtnis geglitten, und er konnte nicht zurück. Ein bitterer Geschmack im Mund, ein schmerzhaft trockenes Gefühl tief im Hals. Die Lichtstreifen in der Jalousie, auf dem Schrank das Plastikraumschiff mit seinen vorgereckten Kanonen, darüber ein Bild von Yoda, das er vor ein paar Monaten mit Reißnägeln befestigt hatte. Der Gang zum Badezimmer: der Teppich, weich unter den nackten Füßen, der elektrische Rasierapparat seines Vaters, die Parfumflaschen seiner Mutter, die schadhafte Kachel, deren Bruchstelle er beim Zähneputzen immer anstarren mußte, ohne zu wissen, warum.
    Seine Mutter schlief lange wie immer, sein Bruder war schon zur Schule gegangen, der Vater arbeitete bereits im Büro. Und der Hund war voreinem halben Jahr gestorben, immer noch war es schwer vorstellbar, daß er nicht mehr dasein sollte, nicht hier und nicht anderswo, gänzlich aus der Welt. Wie jeden Morgen goß er Milch über die Cornflakes und hörte dem Knistern zu, mit dem sie sich zu Brei zersetzten. Er aß ein paar Löffel, dann stand er auf, packte seine Tasche, bemühte sich, kein wichtiges Buch zu vergessen, bisher war das selten gelungen. Die Tasche war so schwer, daß es weh tat, sie auf den Rücken zu heben.
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