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Der fernste Ort

Titel: Der fernste Ort
Autoren: Daniel Kehlmann
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seine Fußsohlen. Aber dort, wo er sie vermutet hatte, lagen seine Kleider. Er bückte sich, von der Bewegung wurde ihm wieder schwindlig; er wartete, bis es vorbeiging. Er tastete nach der Brille, fand sie und setzte sie auf.
    Als erstes sah er die Zigarettenkippen, die Metalldose, die beiden Handtücher: seines und das andere, durchtränkt von lehmiger Feuchtigkeit. Die Hügel schienen deutlicher und zugleich ferner gerückt, als wäre der See gewachsen. Er streckte die Hand nach dem Hemd aus, und im selben Moment fiel ihm ein, daß er den Vortrag versäumt hatte. Sie würden es ihm übelnehmen, niemand würde ihm glauben, daß er fast ertrunken war, niemand hatte es gesehen; damit so etwas akzeptiert würde, mußte man wohl auch dabei sterben. Verschwinden und niemals wiederkehren wie dieser Mann voriges Jahr. Er wäre also nicht einmal der erste gewesen …
    Julian erstarrte.
    Ihm war kalt. Er stand bewegungslos und spürte, daß die Zeit verging und Wolken über den Himmel zogen und die Farbe des Sees sich veränderte und die Sonne sank. Er hielt den Atem an. Langsam zog er die Hand zurück.
    Er verschränkte die Arme und richtete sich auf. Seine Zähne klapperten vor Kälte. Noch immer war niemand zu sehen, er mußte sich beeilen; er mußte es jetzt tun, sofort oder gar nicht. Jetzt!
    Aber er stand immer noch hier. Nein, es war unmöglich! Man träumt davon, tagsüber, oder wenn man in schlaflosen Nächten einnickt, doch man tut es nicht. Er nahm seine Brille ab und legte sie zurück auf das Hemd. Er griff in den Schuh und holte den Zimmerschlüssel hervor. Dann begann er zu laufen.
    Und lief, barfuß und schwankend, in die Richtung des Hotels. Seine linke Fußsohle tat weh, er mußte in eine Glasscherbe getreten sein, aber als er stehenblieb und sie befühlte, war da kein Blut. Er lief weiter. Von der Bewegung wurde ihm wärmer; er kniff die Augen zusammen und wandte seine ganze Konzentration auf, um sich nicht zu verirren: Er lief durch einen Nebel, wie er ihm nur im Fieber begegnet war oder an dem einen Schultag, als jemand, er wußte bis heute nicht wer, seine Brille versteckt hatte; instinktiv streckte er die Hände vor – aber er stürzte nicht, und etwas in ihm fand den Weg. Er unterdrückte einen Schmerzenslaut, seine Zehen waren gegen den Fußball gestoßen, der rollte davon, sprang den Abhang hinunter, kam einmal und noch einmal und ein letztes Mal auf, dann hörte Julian ein Platschen, dann nichts mehr. Man kann es noch lassen, wiederholte etwasin ihm, noch lassen, immer noch lassen, es wird nicht funktionieren!
    Er erreichte das Hotel. Die Mauer ragte schief vor ihm auf, er tappte an ihr entlang, auf der Suche nach dem Hintereingang. Es war unwahrscheinlich, daß er jemandem begegnen würde: Die Hauptsaison war vorbei, außer den Kongreßteilnehmern, die nun alle im großen Saal waren, vor sich hin blickten, Strichmännchen malten, an ihren Brillen rückten und an etwas anderes dachten oder nichts, gab es keine Gäste mehr. Und die Angestellten bereiteten das Abendessen vor. Er fand eine Tür, stieß sie auf und stand in einem niedrigen Gang, in dem es nach Ammoniak und Urin roch.
    Alles hing davon ab, ob er ungesehen in sein Zimmer kam. Sein Herz pochte zu laut, er war immer noch völlig durchnäßt. Der Boden fühlte sich kalt und schmutzig an, der Gestank war kaum auszuhalten. Dort war ein Treppenaufgang; er suchte nach dem Lichtschalter, fand ihn nicht und stieg im Dunkeln hinauf. Das erste Stockwerk: Er hörte Stimmen, Schritte näherten und entfernten sich; er ging schnell weiter.
    Das zweite Stockwerk. Ein Gang, Türen rechts und links, es tat gut, wieder auf einem Teppich zustehen. Er kniff die Augen zusammen, für einen Moment nahmen die Lampen ihre alten Formen an, dann wurden sie wieder zu hellen Flecken. Die Zimmernummern: Dort war eine Zwei, eine Null … Natürlich, alle in diesem Stockwerk begannen mit einer Zwei. Eine Vier, eine Fünf, eine Sieben, wo war die Neun? Dort. Er beugte sich vor, und es war wirklich die Zweihundertneun. Er tastete nach dem Schlüsselloch, rutschte am Messingbeschlag ab, einmal und noch einmal, am Ende des Ganges öffnete sich eine Tür. Er schloß die Augen, faßte den Schlüssel an der Spitze – ganz ruhig, dachte er, ganz ruhig –, fand das Schloß, taumelte hinein und schlug die Tür hinter sich zu.
    Er setzte sich auf das Bett und preßte die Hände an den Kopf. Er stand auf und setzte sich. Er stand wieder auf. Auf dem Tisch lagen seine
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