Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Der fernste Ort

Titel: Der fernste Ort
Autoren: Daniel Kehlmann
Vom Netzwerk:
Moment nur, die Augen …
    Er kam zu sich, weil der Zug angehalten hatte. Sie standen auf der Strecke, kein Bahnhof war zu sehen, an ein paar Stellen zeichneten sich im Weiß noch lange Grashalme ab, bald würden sie ganz bedeckt sein. Er mußte etwas tun: Jetzt oder gar nicht, sie konnten diesen Moment benutzen, um zu entkommen! Er raffte sich auf, die Frau warfihm über ihre Handtasche hinweg einen überraschten Blick zu; er ging zur Tür, rüttelte daran, stemmte sich dagegen, plötzlich gab sie nach, er stolperte hinaus und ruderte mit den Armen nach Gleichgewicht.
    Sofort griff die Kälte nach ihm. Der Wind schlug eisig in sein Gesicht, instinktiv griff er sich an den Hals, aber natürlich hatte er keinen Schal, den er enger ziehen konnte. Er blinzelte, es war fast unmöglich, im Schneegestöber etwas zu erkennen. Aber es sah nicht so aus, als ob noch jemand den Zug verlassen hatte. Er mußte jetzt wirklich den Schaffner suchen! Und während er das dachte, spürte er eine Erschütterung im Boden, hörte ein Knirschen hinter sich, fuhr herum. Der Zug hatte sich in Bewegung gesetzt.
    Die offene Tür war schon außer Reichweite, ein zweiter und ein dritter Waggon fuhren vorbei, er wollte aufspringen, rutschte ab und wäre fast unter die Räder geraten, hinter einem Fenster starrte ihn ein Gesicht an, ein Mund und zwei große Augen, mehr konnte er nicht sehen. Der letzte Waggon. Er machte noch einen Anlauf, sprang auf ein Trittbrett, hielt den Türgriff fest, rutschte ab und fiel der Länge nach hin. Die Schlußscheinwerfer zogenan ihm vorbei: ein schrumpfendes Dreieck, das sich rötlich färbte, zu einem einzigen Punkt wurde, erlosch. Julian starrte ihm nach, durch den Schnee und die Dampfwolken seines Atems. Er stand auf und klopfte seine Kleider ab. Plötzlich fühlte er sich nur noch müde.
    Langsam ging er los. Vorsichtig, einen Fuß vor den anderen setzend, in der Mitte der Schienen. Er spürte, wie der Schnee tiefer wurde, er stemmte sich gegen den Wind und kniff die Augen zusammen, nach einer Weile fühlte er kaum mehr die Stiche der Flocken. Mußte man nicht, wenn man Schienen folgte, zuletzt einen Bahnhof erreichen, eine Stadt, irgend etwas? Seine Brille beschlug, er wischte sie ab, sie beschlug von neuem. Plötzlich konnte er sich kaum mehr erinnern, wie er hierher gekommen war; alles Vergangene war undeutlich geworden, kaum noch zu verstehen. Er drehte sich um, aber seine Spuren waren schon verweht. In der Ferne zeichneten sich Hügel ab, doch es war nicht zu erkennen, wo sie endeten und wo der Himmel begann, es gab keinen Horizont mehr, nur tosendes Weiß. Er schob eine Schulter nach vorne, um so wenig Widerstand wie möglich zu bieten; da rutschte er aus und fiel wieder hin, der Schotter rißihm die Handflächen auf, er wollte aufstehen, aber der Schnee hielt ihn fest. Er stützte sich auf die Ellenbogen und versuchte, sein Gesicht abzuwischen.
    Er stemmte sich hoch, kam auf die Füße, seine Handflächen bluteten und waren gefühllos vor Kälte. Er konnte sich nicht erinnern, wann er jemals so viel Schnee gesehen hatte. Vor fünf oder sechs Jahren vielleicht, bei Papas Begräbnis, sie hatten knietief darin gestanden, und der Priester hatte, er sah es plötzlich vor sich, bleich und verfroren ausgesehen. Er schlug die Hände zusammen, immer wieder, um die Kälte aus ihnen zu vertreiben; der Wind war so laut, daß er das Geräusch seines Klatschens nicht hörte. Er ging schneller, fast wäre er wieder gefallen, schon nach ein paar Schritten war er zu erschöpft. Neben den Gleisen lag ein Kühlschrank, weggeworfen, geschwärzt von Rost, die Tür weit offen. Er blieb stehen.
    Er legte den Kopf in den Nacken, öffnete den Mund und spürte die Kälte, die sich weich auf seine Wimpern, seine Lippen, seine Zunge legte. Er hörte den Sturm, aber als er sich darauf konzentrierte, wich der Lärm zurück. Er horchte. Jetzt war es still.
    Er fühlte sich ein und aus und einatmen. Doch als er darauf achtete, hatte auch sein Atem aufgehört; als hätte er die Luft angehalten oder gäbe es keine Luft mehr. Nur die schweigende Gegenwart, den Schnee. Und mit einem Mal war auch dieser nur noch eine Störung seines Blickes, ähnlich dem tanzenden Licht an der Grenze zwischen Wasser und Luft, hoch über ihm. Seegras und eine Schlingpflanze, die sich weich um seine Schultern gelegt hatte, dünne Halme, in denen die Strömung spielte. Und dann? Zu sich kommen und kämpfen, hinauf an die Oberfläche, vielleicht eine Woche im
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher