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Der fernste Ort

Titel: Der fernste Ort
Autoren: Daniel Kehlmann
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Schneewehe und fing sich wieder; Julian sah ihm eine Weile zu, bis er begriff, daß etwas mit dem Tier nicht stimmte. Es war ein großer Schäferhund mit seidigem Fell, wachsam aufgestellten Ohren, schmalen und konzentrierten Augen. Aber er war der Aufgabe nicht gewachsen: Er hielt keine gerade Linie und wich Hindernissen nicht aus, sein Besitzer streifte einen Laternenmast, stieß gegen einen Hydranten und stolperte, als ihn der Hund plötzlich vom Bürgersteig zog, auf die Straße. Ein Auto machte eine quietschende Vollbremsung, der Hund sprang zurück, der Blinde trat auf den Bürgersteig, der Hund zog ihn davon, in die Richtung, aus der sie gekommen waren, und sie verschwanden im dunklen Spalt zwischen zwei Häusern.Julian wandte sich ab und erstarrte vor Schreck. Mahlhorn ging langsam durch den Raum.
    Er war es wirklich: Sein spitzes Kinn, sein Zopf, seine blasiert vorgeschobene Unterlippe. Julian unterdrückte den Impuls, sich zu bücken oder die Hände vor das Gesicht zu schlagen, dafür war es zu spät. Mahlhorn kam näher, rieb sich die Nase, hob und senkte die Schultern, wie er es immer tat, öffnete die Tür und ging hinaus. Er ging am Fenster vorbei, sah nach rechts und nach links, schon waren seine Haare mit Schnee überzogen. Er blieb stehen, rieb seinen Schuh an der Bordsteinkante, ging weiter und verschwand aus Julians Blickfeld.
    Julian stützte den Kopf in die Hände. Sein Puls raste. Im Fernseher war jetzt ein Moderator zu sehen, der ein Mikrofon schwenkte und sehr schnell die Lippen bewegte. Das Bild wechselte, ein Priester saß höflich nickend auf einer Couch, neben ihm ein kleiner Junge mit runden Brillen, der sich zurücklehnte, die Beine übereinanderschlug und eine Zigarette zwischen Daumen und Zeigefinger hielt. Der Priester gestikulierte, bei jeder Handbewegung blitzte ein Ring an seiner linken Hand; der Junge antwortete, der Priester schüttelte den Kopf,wieder kam der Moderator ins Bild und machte unbeholfene Tanzschritte.
    »Kann ich einen Kaffee haben?« rief Julian. Niemand drehte sich um, die Kellnerin war nicht zu sehen. Der Fernseher zeigte eine Großaufnahme des Jungen; in seinen Brillengläsern spiegelten sich die Scheinwerfer und machten seine Augen unsichtbar. Julian stand auf, zog seine Jacke an und ging hinaus.
    Er sah hinüber. Zu den Umrissen des Bahnhofs, den Werbeaufschriften, dem leuchtenden Glas der Fenster. Er breitete langsam die Arme aus. Er atmete ein und hielt die Luft an. Dann schloß er die Augen und ging los.
    Autos brausten an ihm vorbei; er spürte, wie sie auf ihn zu stürzten und an ihm vorbeischnellten, er hörte keine Hupe und keine Bremse. Er ging weiter, ein letztes raste heran und davon, dann hatte er die andere Seite erreicht. Er legte die Hand auf die Brust. Sein Puls war nicht schneller geworden. Er klappte seinen Kragen herunter. Er atmete ein. Ein paar Sekunden horchte er noch, als müßte er es sich einprägen, auf das Geräusch der Straße.
    In der Bahnhofshalle waren nur wenige Menschen. Auf der Tafel sah er, daß sein Zug in zwanzigMinuten abfahren würde. An einem Automaten mit dessen blinkendem Bildschirm und vielen Knöpfen und unterschiedlichen Aufschriften er kaum zurechtkam, kaufte er eine Fahrkarte. Sie war teuer, aber es war auch ein weiter Weg.
    Seine Schritte kamen ihm sehr laut vor. Aber niemand, nicht der Betrunkene in der Ecke, nicht der Mann mit den drei Reisetaschen, von denen eine ständig zu Boden fiel, nicht die Frau mit dem schwarzen Pelzmantel, drehte den Kopf, als er vorbeiging. Eine Rolltreppe trug ihn auf den Bahnsteig. Gleis Drei. Es war ein merkwürdiges Gefühl, ohne Gepäck zu verreisen. Er hätte einkaufen können, aber jetzt war es zu spät dafür. Wie hatte er eigentlich den ganzen Tag vertan? Vor ihm stand ein Mann in einem durchnäßten Regenmantel und blickte vornübergebeugt, mit herabhängenden Armen auf die Schienen. Julian überlegte einen Moment. Dann schlug er ihm auf die Schulter.
    Paul fuhr herum. Er blickte Julian mit zusammengekniffenen Augen an, erschrocken, als ob ihn etwas blendete.
    »Wieso bist du hier?« fragte Julian.
    »Du weißt genau, daß ich es nicht wirklich bin. Oder hast du es noch immer nicht verstanden?«Paul griff in seine Manteltasche. »Ich dachte mir, daß du diesen Zug nimmst. Und ich dachte, du brauchst vielleicht noch Geld. Hast du einen Paß?«
    »Gewissermaßen.«
    »Hast du einen oder nicht?«
    Julian zögerte. »Ich habe einen.«
    »Kann ich ihn sehen?«
    »Besser
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