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Der fernste Ort

Titel: Der fernste Ort
Autoren: Daniel Kehlmann
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beunruhigt um. Der Anblick eines Spiegels bei so wenig Licht war unheimlich; er fragte sich unwillkürlich, was er zeigen mochte, wenn es ganz dunkel war, aber der Gedanke schien ihm so erschreckend, daß er ihn von sich schob. Wöllner nickte. Er öffnete eine Schublade, nahm etwas heraus und warf es auf die Tischplatte. »Hier!«
    »Was ist das?«
    »Ein Paß natürlich. Nehmen Sie ihn und gehen Sie, bevor ich es mir überlege! Ihr Geld können Sie behalten. Ich rate Ihnen trotzdem, es nicht zu tun.«
    »Aber …« Julian streckte die Hand aus. Es war wirklich ein Paß: klein und rötlich mit dem eingeprägten Halbrund eines Wappens.
    »Öffnen Sie ihn nicht!«
    Julian sah auf. Wöllners Brillengläser funkelten. »Verstehen Sie?«
    Julian nickte.
    »Dann verschwinden Sie jetzt!«
    »Verschwinden«, sagte Julian leise. Ein paar Sekunden sahen sie einander an. Wöllner lächelte und machte eine schnelle Handbewegung, Julian trat zurück, und die Tür schloß sich vor ihm. Wieder die Schläge, wieder das Flackern; der Rauch nahm die wechselnden Farben der Scheinwerfer an. Julian schob sich vorwärts, durch den Qualm und die Ausdünstungen von Körpern, Übelkeit stieg in ihm auf, er schob sich weiter, drückte jemanden zur Seite, versetzte einem anderen einen Stoß, erreichte den Gang, die Graffiti flackerten vor seinen Augen, er lief die Treppe hinauf, stieß die Tür auf, trat auf die Straße. In die Kälte und den fallenden Schnee.
    Er hätte sich am liebsten hingesetzt, aber dafür hatte er keine Zeit, er mußte weg von hier. Er hielt den Paß immer noch in der Hand; er schob ihn inseine Jackentasche und ging weiter, ein Auto fuhr durch eine Pfütze, Wasser spritzte auf, er fühlte die Nässe an seinen Hosenbeinen. Ein Räumfahrzeug kroch träge vorbei. An einer Mauer lehnte eine Frau. Sie hatte einen kurzen Rock, rot gefärbte Haare, die sich auf ihren Schultern bauschten, eine kurze Lederjacke. Ihr mußte kalt sein. Wenn sie mich anspricht, dachte er plötzlich, dann gehe ich mit! Er näherte sich, sie warf einen Blick in seine Richtung, aber sie schien durch ihn zu sehen, als wäre er unsichtbar. Beim Vorbeigehen roch er ihr Parfum, ein Aroma billiger Chemie, und als ihm auffiel, wie das Licht auf ihren Haaren spielte, begehrte er sie so stark, daß ihm der Atem stockte. Er drehte sich um, aber sie war schon nicht mehr da; der Bürgersteig war leer.
    Er senkte den Kopf und überquerte die Straße, er achtete nicht mehr darauf, wohin er ging. Er wich einem Mann aus, der ihn fast umgestoßen hätte, und betrat das Weiß eines Zebrastreifens; ein Auto wollte losfahren, aber seine Räder drehten durch, seine Scheibenwischer zuckten hilflos hin und her. Julian blieb stehen und hob den Kopf. Es überraschte ihn nicht, daß auf der anderen Straßenseite schon der Bahnhof war. Über seinem Einganghingen die grünen Digitalziffern einer Uhr: noch über eine Stunde, bis die Nachtzüge gingen. Hinter ihm war ein matt erleuchtetes Kaffeehaus, eine blinde, nicht sehr saubere Glastür. Er öffnete sie und trat ein.
    Zwei billig imitierte Kristallüster, abgestandener Zigarettenrauch in der Luft, an den Wänden klebten alte Plakate mit eitel lächelnden Schauspielern, Turbane und Kronen, überzogen vom Sepia des Verbleichens. Auf einem Schrank lief ein Fernseher mit abgeschaltetem Ton. Julian zog seine Jacke aus und setzte sich. Nur wenige Tische waren besetzt: Menschen blätterten in Zeitschriften oder starrten vor sich hin, eine Kellnerin ging auf und ab und warf suchende Blicke um sich. Julian hob die Hand, sie kümmerte sich nicht darum. Ein knochiger Mann mit einem langen Gesicht hob am Nebentisch die Hand, sofort stand sie neben ihm, er flüsterte eine Bestellung, sie nickte und eilte davon. »Entschuldigung!« rief Julian.
    Dann lauter: »Entschuldigung!« Der knochige Mann blickte sich irritiert um, die Kellnerin kam zurück und stellte etwas auf seinen Tisch; Julian beugte sich vor und sah, daß es ein Teller mit einem flachen Stück Kuchen war, löchrig und wie ausKunststoff; er überlegte, wo er diesen Kuchen schon gesehen hatte. Die Kellnerin ging wieder auf die Küchentür zu. Julian hob die Hand, ballte sie zur Faust und schlug mit aller Kraft auf den Tisch.
    Die Kellnerin verschwand in der Küche. Der knochige Mann drehte ihm langsam den Kopf zu und sah mit gerunzelter Stirn, als trübte etwas seinen Blick, in Julians Richtung. Vor dem Fenster ging ein Blinder mit einem Hund vorbei, stolperte in einer
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