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Der fernste Ort

Titel: Der fernste Ort
Autoren: Daniel Kehlmann
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und beide hatten sie nicht gewußt, was sie sagen sollten. Hin und wieder hatte sich ein bedrucktes Blatt gelöst, war langsam durch die Luft geschwebt und lautlos auf dem Boden aufgekommen. Dann hatte sein Vater geseufzt, sich gebückt und es aufgehoben. Nach einer Stunde war Julian gegangen. Plötzlich fühlte er sich lächerlich. Warum war er hier?
    »Warum bin ich hier?«
    Hatte er das laut gesagt? Er berührte verwirrt eine Hand seines Vaters. Die Finger reagierten nicht, übten keinen Druck aus. Doch da geschah etwas.
    Sein Vater öffnete den Mund. Sein Kopf machte eine kleine Bewegung, Julian beugte sich vor. Er spürte den Wäschegeruch der Bettücher, denGeruch der Medikamente und eines alten Körpers, dessen Lippen sich bewegten, dessen Finger sich um seine Finger schlossen. Julian fühlte den Atem auf seiner Wange.
    » … jetzt«, hörte Julian ihn sagen, »ja?«
    »Was?«
    »Nicht jetzt. Ja?«
    Julian zog seine Hand zurück. Die Augen seines Vaters öffneten und schlossen sich, seine Hand suchte vergeblich nach der Hand Julians.
    »Nicht jetzt«, wiederholte er, »ja? Noch nicht!«
    Julian ging zur Tür. Es hatte keinen Sinn, er erkannte ihn nicht. Er drehte sich noch einmal um: Sein Vater lag wieder ruhig da, ohne ihm nachzusehen, ohne ihn zu bemerken. Sein Mund war geöffnet, sein Blick konzentriert auf den abgeschalteten Fernseher gerichtet. Seine rechte Hand hing über die Bettkante, seine Finger sahen lang aus und beinahe schön. Leise schloß Julian die Tür hinter sich.
    Er sah zu der defekten Leuchtröhre auf. Für ein paar Sekunden füllte ihr Flackern sein Bewußtsein ganz: Die Wirklichkeit wurde unscharf; er ballte die Fäuste, noch nicht, er wollte noch nicht, daß es aufhörte, jetzt noch nicht …! Er tastete nach der Wand neben sich, schon nahm der Gang wiederGestalt an, und er sah sich die Treppe hinuntergehen, vorbei an den beiden Ärzten und am Portier, auf die Straße; der Schnee reichte ihm schon bis zu den Knöcheln. Auf der Fahrbahn stauten sich Autos, er hörte wütende Rufe, ein Hund schüttelte sich, das Weiß wirbelte von seinem Fell. Als Julian sich umdrehte, war die Fassade des Krankenhauses schon nicht mehr auszumachen, sie war in die Reihe der anderen Häuser eingegangen und nicht mehr von ihnen zu unterscheiden.
    Der Paß! Er mußte nachdenken. Vor Jahren hatte er einen Film gesehen, dessen Held falsche Ausweise gebraucht hatte und deshalb in ein Nachtlokal gegangen war. Er hatte dem Besitzer mit souveräner Vertrautheit ein paar Geldscheine zugesteckt; dieser hatte genickt, und in der nächsten Einstellung war schon ein neuer Paß da, mit allen nötigen Stempeln und einem nur etwas unscharfen Foto. Natürlich ging es in Wirklichkeit nicht so leicht.
    Wenn aber doch? Julian hob die Hand, und im selben Augenblick – oder womöglich sogar früher, als wäre seine Bewegung nur eine Reaktion darauf – hielt ein Taxi vor ihm. Er öffnete die Tür und setzte sich in den Wagenschlag. Der Fahrer drehtesich um. Er hatte ein rundes Gesicht, dicke Lippen und einen Schnurrbart. »Was sagen Sie zum Wetter?« rief er. »Im Oktober!«
    »Sie?«
    Der Fahrer starrte ihn an.
    »Sie haben mich heute schon gefahren!«
    »Ich fahre viele Leute.«
    »Aber doch nicht zweimal an …«
    »Wohin wollen Sie?«
    »Ich meine, finden Sie es nicht seltsam …«
    »Wohin wollen Sie?«
    Julian überlegte. Ihm war heiß geworden, er spürte, daß er rot wurde. »Kennen Sie in dieser Gegend ein Nachtlokal?«
    »Ein was?«
    Julian schluckte. »Einen Ort, wo man etwas trinken kann und … Menschen sind und … wenn man etwas braucht …« Der Fahrer grinste. »Nein, ich meine, wenn man …!« Er wischte sich die Stirn ab.
    »Schon verstanden!« sagte der Fahrer. Für einen langen Moment hing noch sein Grinsen im Rückspiegel, dann schaltete er den Blinker ein und fuhr los. Julian lehnte sich zurück, schloß die Augen, spürte, wie das Auto bremste, anfuhr, wieder bremste, um eine Kurve fuhr und hielt.
    »So«, sagte der Fahrer.
    Julian schlug die Augen auf. »Was?«
    Der Fahrer nahm langsam eine Zigarette aus dem Mund. Julian hatte nicht bemerkt, daß er sie angezündet hatte. Er schnippte die Asche auf den Beifahrersitz. »Wir sind da!«
    »Dafür hätte ich kein Taxi gebraucht!«
    »Ihre Sache.« Der Fahrer legte den Kopf zurück und blies Rauch an die Decke. Julian bezahlte, stieg aus und wartete. Es dauerte eine Weile, bis er das Auto hinter sich wegfahren hörte.
    Eine kahle Ziegelmauer, deren Ritzen
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