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Der fernste Ort

Titel: Der fernste Ort
Autoren: Daniel Kehlmann
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Krankenhaus, dann heimkehren; wenn man nur wollte, würde es sein wie zuvor. Die Frage schien ernsthaft gestellt, er hatte es in der Hand, für einen unendlich kurzen Augenblick, als etwas, eine Bewegung seines Körpers oder auch nur eine Regung seines Willens, alles aufstörte. Er spürte, wie eine Wirklichkeit sich in eine andere schob und zurückwich, und dann waren da wieder die Schienen und der in immer dichteren Wellen vorbeiwehende Schnee.
    Er hatte begriffen. Er nahm seine beschlagene Brille ab und faltete sie. Einen Moment wog er sie in der Hand, drehte sie zwischen seinen klammen Fingern. Dann schleuderte er sie von sich.
    Er sah sie schrumpfen, sinken und im Schneegestöber verschwinden; er sah nicht mehr, wie sie aufschlug. Er stapfte weiter, er versuchte nicht mehr, sich vor dem Wind zu schützen. Er schob die Hände tief in seine Taschen, kniff die Augen zusammen und fühlte keine Überraschung, als ein Schatten im Weiß zum Vordach einer Bahnstation wurde.
    Keine Weichen oder Verzweigungen, nur ein einzelner Gleisstrang. Ein Bahnsteig unter einem schiefen Dach. Zwei Lampen, ein kleines Haus mit dunklen Fenstern, davor eine Bank, deren Lehne abgebrochen war. Auch ein Stationsschild, doch die Aufschrift, nur wenige Buchstaben, konnte er nicht lesen.
    Er sprang auf den Bahnsteig, ging zu der Bank und setzte sich. Er hatte jetzt keine Schmerzen mehr. Der Wind mußte nachgelassen haben, er spürte auch ihn kaum noch. Du hast einiges vor dir. Wer hatte das gesagt?
    Er blickte auf, das Schild über ihm schwankte, sein Schatten bewegte sich langsam hin und her. Er mußte an Clara denken, an seine Mutter, an Paul, den er seit Monaten nicht gesehen hatte. Sogar an Andrea. Sie alle kamen ihm nicht mehr glaubhaftvor, es war schwer, ihr Bild festzuhalten. Und für einen Augenblick dachte er an Vetering, den kleinen, schlechtgelaunten Mann, von dem niemand je ahnen würde, wieviel er gewußt hatte. Wie hatte alles so schnell gehen können? So unbegreiflich schnell.
    Die Sicht war jetzt besser: Die Schienen liefen am Bahnsteig entlang, dehnten sich in die Ferne, schrumpften auf einen Punkt im Norden zu. Dort waren mehr Hügel; sie strebten zueinander, berührten sich, wuchsen zu Bergen. Östlich davon war eine dünne Linie, parallel zum Horizont, ein breiter Flußlauf oder auch eine Küste. Er beugte sich vor und blickte lange dorthin. Er fühlte Neugierde. Hinter sich hörte er das Knarren einer Tür, er drehte sich um, aus dem Dunkel des Bahnwärterhauses war ein Mann getreten. Er hatte breite Schultern, ein rundes Gesicht und einen Schnurrbart, und Julian hatte das Gefühl, daß er ihn schon gesehen hatte. Vor langer oder nicht so langer Zeit, doch das spielte keine Rolle.
    »Kann ich helfen?«
    »Nein«, sagte Julian. »Jetzt nicht mehr.«
    »Der Zug kommt gleich.«
    Julian betrachtete seine Hände. Dann blickteer auf: Die Flocken fielen aus dem Himmel, unzählbar viele, das Weiß schien makellos. Für einen Moment, aus Gewohnheit noch, wunderte er sich, daß er nicht fror. Er nickte. Und plötzlich mußte er lächeln.
    »Ich weiß.«

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