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Der fernste Ort

Titel: Der fernste Ort
Autoren: Daniel Kehlmann
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nicht.«
    Paul musterte ihn. Wieder spürte Julian die Kraft seines Blickes; unwillkürlich schlug er die Augen nieder. Paul nickte, griff in seine Tasche und holte ein Bündel Geldscheine hervor. Julian nahm es und steckte es ein.
    »Ich war bei Papa«, sagte er. »Er hat mich nicht einmal erkannt.«
    »Was soll das heißen?«
    »Bitte?«
    »Ich weiß nicht, was du damit sagen willst!«
    »Ich wollte …« Die Frauenstimme aus dem Lautsprecher übertönte ihn. »Ich wollte gar nichts sagen«, brüllte er, »ich …« Da spürte er schon den Luftzug der sich nähernden Bahn, die Umrisse einer Lokomotive zeichneten sich ab. »Ich wollte …« begann er noch einmal, doch es war zulaut, der Zug bremste, gab ein langgezogenes Zischen von sich, stand. Und öffnete seine Türen.
    »Wir sehen uns nicht wieder«, sagte Paul. »Weißt du das?«
    »Ich weiß das.«
    »Du hast einiges vor dir.«
    »Ja«, sagte Julian, »das habe ich wohl.«
    Sie sahen einander an. Menschen stiegen aus und ein, Koffer wurden vorbeigetragen, die Stimme aus dem Lautsprecher sagte etwas Unverständliches, ein Mann in einer Uniform machte irgend jemandem Zeichen.
    Julian wollte noch etwas sagen. Aber dann begriff er, daß das nicht nötig war. Paul hob langsam beide Hände. Julian nickte. Dann wandte er sich ab und stieg ein.

VI
    Die Lokomotive stieß einen Pfiff aus, und Julian schreckte auf. Sein Spiegelbild sah ihn beunruhigt aus der Fensterscheibe an, blaß und unrasiert, mit zerzausten Haaren. Dahinter geglättete Dunkelheit: kein Licht am Himmel, kein Licht darunter. Der Waggon war fast leer. Nur eine alte Frau, ein schlafender Junge, ein Mann, der gekrümmt und faltig vor sich hin starrte. Auf der anderen Seite des Fensters schwebte ein durchsichtiges Abbild des Waggoninneren mit allen Sitzen, allen Menschen, selbst den Nichtraucherzeichen auf den Scheiben. Auch ihm selbst: Nur seine Augen konnte er nicht gut erkennen, er sah das Weiße darin, die Iris, ihre fast bläuliche Äderung, aber nicht die Pupillen. Die Gesetze der Optik, dachte er, und ihm fiel ein, daß es drei Abhandlungen von Vetering darüber gab, die er immer vermieden hatte zu lesen.
    Hinter ihm öffnete sich die Waggontür, er hörte das Rattern des Fahrwerks, dann schob sich ein dicker Mann herein. Es dauerte eine Weile, bis er seinen Koffer auf die Gepäckablage gehievt hatte:mehrmals gelang es nicht, die Ablage war zu klein oder der Koffer zu schwer, er schnaufte laut, Schweiß stand auf seiner Stirn. Julian überlegte schon, ob er ihm Hilfe anbieten sollte, aber dann schaffte er es doch und sank schwer atmend in einen Sitz. Seine Brust hob und senkte sich, sein Mund stand weit offen.
    Julian schloß die Augen. Er versuchte, sich das vorbeifliegende Land vorzustellen: Hügel und Täler, lichtlose Dörfer, Wälder, deren Astgeflecht die Dunkelheit festhielt. Wieder hörte er das Geräusch der Tür, das Hämmern der Gleise, Schritte; er öffnete die Augen, es war der Schaffner. Er war groß und dürr, seine Kappe saß schief, und bevor Julian noch seine Fahrkarte hervorziehen konnte, war er an ihm vorbeigegangen. Zu dem gekrümmten Mann, der ein Billett hochhielt, der Frau, die lange in ihrer Handtasche kramen mußte, dem Jungen, der bleich geworden war und gerade etwas sagen wollte, als der Dicke seine Geldbörse hervorholte und ihm eine Fahrkarte kaufte. Der Schaffner nickte und ging weiter, Julian starrte ihm nach und steckte seine Karte wieder ein. Er lehnte den Kopf an das Glas, blickte in die Augen seines Spiegelbildes, in das Geisterbild des Waggons, und sah zu,wie die Frau ihre Augen schloß, der Gekrümmte von neuem erstarrte und der Junge leise mit dem dicken Mann sprach. Dieser lächelte und strich seine Haare zurück, der Junge schüttelte den Kopf, der Dicke faltete die Hände auf dem Bauch. Hinter ihnen malte sich, dünn wie eine Bleistiftlinie, der Horizont. Das erste Zeichen, daß es bald hell sein würde.
    Julian gähnte, Tränen traten ihm in die Augen. Er wußte, daß es etwas gab, an das er sich hätte erinnern müssen, etwas Wichtiges. Er konzentrierte sich, aber es fiel ihm nicht ein. Alle schliefen sie jetzt: Dem Jungen war der Kopf auf die Brust gesunken, der Dicke hatte sich schief über drei Sitze ausgestreckt, ließ die wulstigen Hände auf den Boden hängen und schnarchte mit offenem Mund. Julian schloß und öffnete wieder die Augen, und womöglich hatte auch er geschlafen, denn die Farbe seines Spiegelbildes hatte sich verändert, die Berge in
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