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Der fernste Ort

Titel: Der fernste Ort
Autoren: Daniel Kehlmann
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der Ferne waren deutlicher, darunter streckten sich farblose Wiesen aus, und vor dem Himmel sah man die regelmäßige Kurve der steigenden, sinkenden, steigenden Drähte, heruntergezogen von ihrem Gewicht und wieder hinauf von den rhythmisch aus dem Boden schießendenMasten. Schneeflocken trieben schräg vorüber; nun tauchten Häuser auf, schief und mit leeren Türrahmen, offensichtlich unbewohnt. Auf einem Schornstein klebten die Überreste eines Vogelnests. Glasscherben ragten aus hohlen Fenstern, eine Rückwand war schon zu weißlichem Schutt aufgelöst; bevor er es genau sehen konnte, waren sie vorbei. Der Himmel füllte sich mit bleichem Licht.
    Julian stand auf; sein Rücken war so steif, daß er einen Schmerzenslaut unterdrücken mußte. Niemand blickte auf, als er hinausging, auf der Schwelle zum nächsten Waggon wehte ihn eisige Luft an, er biß die Zähne zusammen und stieg über den ratternden Spalt. Er schob die Tür zum nächsten Waggon auf und betrat die Toilette.
    Der Spiegel war blind und beschlagen, es dauerte eine Weile, bis das Wasser zu fließen begann; er wusch sich das Gesicht und die Hände. Er hatte Durst, aber ein Schild wies darauf hin, daß man hier nichts trinken konnte. Er befeuchtete sich die Haare und strich sie glatt zurück. Als er wieder auf den Gang trat, standen zwei Männer vor ihm. Sie waren groß und schwarz gekleidet und trugen die gleichen roten Krawatten.
    »Gibst du uns Geld?« fragte der eine von ihnen.
    Julian nickte, griff in seine Tasche und zog ein paar Geldscheine heraus. Seine Kehle war zugeschnürt. Er fragte sich, ob das wirklich geschah, oder ob er noch auf seinem Platz saß und alles nur träumte.
    »Nein«, sagte der andere mit hoher Stimme, »alles bitte. Das ist nötig. Ja?«
    »Ja«, sagte Julian, beinahe erleichtert, denn das schien ihm der Beweis, daß es nicht wahr sein konnte. Er holte die restlichen Scheine hervor, alle, und legte sie in die Hand, die sich ihm entgegenstreckte.
    »Und der Paß?«
    Julian nickte und gab ihm den Paß.
    »Danke sehr!« Der Mann hatte breite und sehr weiße Zähne und ein rundes Muttermal auf der Stirn. Bedächtig steckte er den Paß ein. Der andere strich sich über die zu einem Zopf gebundenen Haare, lächelte und sagte auch »Danke!« Es klang so freundlich, daß Julian völlig überrascht war, als plötzlich eine Faust auf ihn zu schnellte. Bevor er die Arme heben oder sich ducken konnte, flog seine Brille davon, er fühlte sich fallen, die Wand prallte gegen seinen Rücken. Für einen Momentstand die Zeit still. Dann stieg – zunächst fast sanft, dann immer stärker – ein pochender Schmerz auf.
    Er sah, wie die beiden Männer ohne Eile den Gang entlang schlenderten und sich links und rechts an den Wänden abstützten. Der Schaffner trat aus einem Abteil, rückte die Kappe zurecht und grüßte, die beiden grüßten zurück, öffneten die Tür zum nächsten Waggon, verschwanden. Der Schaffner sah ihnen nach und ging zurück in sein Abteil. Julian wollte rufen, aber seine Stimme gehorchte ihm nicht.
    Er spuckte aus, er spürte den Geschmack von Blut. Er betastete sein Kinn: Auch hier war Blut, er wischte es mit dem Ärmel ab. Der Schmerz klopfte gegen seine Stirn, die rechte Wange, die Nase. Aber die Nase war nicht gebrochen, und auch die Zähne, er tastete vorsichtig, waren alle noch da. Langsam stand er auf.
    Er untersuchte die Brille: Über das rechte Glas zog sich ein dünner Sprung. Der Boden unter seinen Füßen schien nachgiebig, seine Haare waren immer noch feucht. Er wollte sein Bild in der Fensterscheibe sehen, aber es war schon zu hell dafür. Er tastete nach dem Türgriff, stolperte durchden eisigen Zwischenraum, durch die zweite Tür, sie klemmte, aber er riß sie auf, zurück zu seinem Platz.
    Der dicke Mann und der Junge waren nicht mehr da. Der Alte saß immer noch starr, die Frau hatte die Handtasche zwischen ihren Kopf und das Fenster geschoben und schlief. Julian setzte sich und lehnte den Kopf an die Scheibe. Sie beschlug von seinem Atem, sofort füllte sich die Landschaft, die gewellte Erde, das Gras, die Leere bis zu den Bergen, mit Nebel; er wischte die Scheibe ab. Sein Kopf schmerzte. Er mußte irgend etwas tun, die beiden waren noch im Zug, er mußte den Schaffner alarmieren, dieser die Polizei … Aber nein, das konnte er nicht. Es gab ihn nicht mehr, niemand würde ihm helfen. Das ist nichts für Sie. Wer hatte das gesagt? Er stöhnte leise. Er bewegte sich nicht und schloß, für einen
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