Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Der fernste Ort

Titel: Der fernste Ort
Autoren: Daniel Kehlmann
Vom Netzwerk:
Nachmittag nur für sie auftraten, und erfuhren mit verblüffter Enttäuschung, daß jeder sie sehen konnte, jeden Tag, und daß sie nur Stücke aus Holz waren, geschickt bekleidet und beklebt, an Fäden aufgehängt und vor der Kamera mit dem Anschein von Lebenerfüllt. Dann seine Mutter, die jemandem einen Brief schrieb. Es war Sommer, er saß auf dem Boden und sah zu ihr auf, ihre Blicke trafen sich, schon wandte sie sich ab, und plötzlich war ihm, als wäre etwas verlorengegangen. Dann stand er auf und ging hinaus. Im Gras fand er halb eingegraben den kleinen Polizisten, der es noch einmal versucht hatte. Er zog ihn aus der Erde, gegen seinen verbissenen Widerstand, und horchte auf die Radiostimmen aus Pauls Fenster: eine Diskussion von Erwachsenen, er verstand nicht, wie man sich so etwas anhören konnte. Und nach dem Abendessen würde er eine halbe Stunde eines Filmes sehen dürfen, bevor sie ihn zu Bett schickten, und noch ein Sommertag würde vorbei sein, kaum zu unterscheiden von den vergangenen und denen, die kämen, nichts würde sich je ändern.
    Der Polizist hatte ihn zurückgebracht, und alles war abgelaufen wie erwartet. Sein Vater schrie, seine Mutter ging hinaus, Paul kniff die Augen zusammen und betrachtete ihn nachdenklich, als fiele ihm zum ersten Mal Julians Existenz auf. Sein Vater unterbrach, räusperte sich und schrie weiter. Paul gähnte und ging hinaus. Julian sah unauffällig nach der Wanduhr, der große Zeiger machte dreiund vier und fünf Sprünge, sein Vater schrie immer noch, er machte den sechsten und siebten Sprung, der Vater folgte Julians Blick und verstummte. Ein paar Minuten später fand Julian sich im Bett und hörte, wie der Schlüssel sich zweimal im Schloß drehte. Die Möbel zeichneten sich als scharf umrissene Schemen ab, durch die Jalousie sah er, daß es bereits hell wurde. Wenigstens mußte er heute nicht zur Schule. Von draußen hörte er ihre Stimmen, hektisch und schnell, aber er verstand nicht, was sie sagten. Noch einmal sah er es vor sich: die weiße Hand, den Sack, der ein Körper gewesen war, den unkenntlichen Kopf. Aber schon hatte er begonnen, sich daran zu gewöhnen. Er betrachtete seine Hände, und plötzlich mußte er lächeln. Dann schloß er die Augen.
    In den nächsten Jahren wurden die Lehrer zahlreicher, die Mitschüler andere, er lernte Latein, Physik, Biologie und daß das Weglaufen nicht half. Als Paul einen Programmierwettbewerb gewann und mit dem Ausdruck gelangweilter Überraschung, den er niemals ablegen konnte, eine Urkunde aus den Händen des Wissenschaftsministers nahm, saßen sie in der ersten Reihe und klatschten, und Julian hätte viel dafür gegeben, jetzt auch dortzu stehen. Nur daß er kaum verstand, was Paul eigentlich getan hatte: Es hatte mit Primzahlen zu tun, mit einem besonders eleganten Verfahren, sie zu finden, und mit dem Commodore 64, der seit einem Jahr in Pauls Zimmer stand. Er mußte Hunderte Stunden davor verbracht haben, im matten Licht des Schwarzweißfernsehers, der ihm als Monitor diente. Jeden Tag hatte Julian ihn so gesehen, aber er hatte nie zu fragen gewagt.
    Er hätte nicht sagen können, warum. Aber manchmal schien es ihm, als ob er niemanden kannte, der nicht vor Paul Angst hatte. Die Eltern bestraften ihn nicht, die Lehrer vermieden es, ihn anzusprechen, und gaben ihm gute Noten, als hätte er ein natürliches Recht darauf. Mit zwölf Jahren weigerte er sich, Weihnachten mitzufeiern, mit dreizehn setzte er in einem Gespräch mit dem Schuldirektor durch, daß man ihn vor der Zeit vom Religionsunterricht befreite, mit sechzehn schien er korpulent zu werden; aber das war eine Täuschung, es war bloß etwas Schwerfälliges an ihm, das man besser begriff, indem man ihn für dick hielt. Mit siebzehn zwang ihn der Direktor, an einem Jugend-programmiert -Wettbewerb teilzunehmen; er gewann den zweiten Preis für die Ableitungeiner Sinuskurve auf dem Commodore Amiga. »Hätte auch der erste sein können«, sagte er, »aber ich hatte zuviel Zeit, es war langweilig. Wen interessieren schon Kurven!«
    Julian fragte sich, ob das bedeutete, daß er sich ärgerte. Wahrscheinlich nicht; es schien nichts zu geben, das ihm eine solche Anstrengung wert gewesen wäre. Und sogar in den wenigen frühen Momenten, als Julian ihn hatte weinen sehen (er war hingefallen oder ausgerutscht oder – einmal nur – von Peter Bohlberg geschlagen worden; doch Peter wurde blaß und wich zurück und tat es nie wieder), war das erst nach einer
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher