Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Der fernste Ort

Titel: Der fernste Ort
Autoren: Daniel Kehlmann
Vom Netzwerk:
Tür öffnete sich und ein zerzauster Stoffbär blickte unfreundlich von einem Schrank herab. Clara lachte, und sein Herz setzte einen Schlag aus, als er den Anflug von Schärfe in ihrer Stimme hörte. Er spürte ihre Haare in seinem Gesicht und den Geruch von Shampoo, dann ihr Gewicht auf sich; er wunderte sich darüber, wie schwer sie war und daß ihre Brüste genau so aussahen, wie er es sich vorgestellt hatte; sein Herz raste, und zugleich war ihm, als ob er all dem aus der Ferne zusah. Er tastete nach ihr und hoffte, daß seine Hände von selbst das Richtige tun würden, sie warf ihre Haare zurück, und die nächsten Sekunden löschten die Dunkelheit des Zimmers aus, und er war ein anderer oder niemand, und erst nach einer Weile tauchte wieder das leicht vorwurfsvolle Gesicht des Stoffbären auf, dann die Tür, die immer noch offenstand, und dann, aus nächster Nähe und leicht verschwommen, ihr Gesicht. Als hätte er es noch nie gesehen.
    Am nächsten Morgen mußte er früh aufstehen, er hatte in Kronensäulers Seminar sein Referat über Vetering zu halten. Er sprach eineinhalb Stunden über die Oekonomie , wesentlich länger alsgeplant, aber er wollte nicht aufhören. Seine Notizen kamen ihm schwerfällig und erbärmlich vor, zu seiner Überraschung hörte er sich improvisieren, Formeln erfinden, Werke zitieren, die es nicht gab; er war sicher, daß man ihn hinauswerfen würde, aber das war ihm egal. Was war schon dieses idiotische Seminar, was dieses Studium; zum ersten Mal hatte er das Gefühl, daß sich mit dem Leben etwas anfangen ließ. Als er fertig war, war es lange still, dann bat Kronensäuler ihn in sein Büro, wo er ihm einen Stuhl anbot, eine Tasse Kaffee und eine Stellung.
    »Ich suche schon lange jemanden, der eine Monographie über Vetering schreibt. Sehr unterschätzter Mann, trotz allem. Wenn Sie promovieren möchten, eine aktuelle Arbeit über ihn wäre notwendig, meinen Sie nicht?«
    Julian schwieg. Er wußte so gut wie nichts über Vetering. Aber es war eine Stellung, und so etwas konnte man nicht sofort entscheiden. Schließlich hob und senkte er die Schultern, sah in Kronensäulers Gesicht und sagte leise: »Ja, allerdings. Wirklich notwendig.«
    Nur wenige Tage später nahm Paul ein Angebot von Infotoy -Software an. Plötzlich und ohne Vorankündigung,und als er es ihm erzählte, hielt Julian es für einen Scherz.
    »Aber wieso denn?« rief Paul. »Wenn du nur wüßtest, wieviel Aufwand nötig ist, wieviel Können und Wissen und Überlegung, wieviel Mathematik , um so eine Unterhaltung für Analphabeten zu entwickeln! Und keinem nützt es, und es interessiert niemanden. Ist das nicht großartig?«
    »Eigentlich nicht«, sagte Julian, »wieso?«
    »Es ist wie ein Symbol.«
    »Wofür?«
    »Ach, keine Ahnung. Nicht so wichtig!« Paul schnaubte, wandte sich ab und sagte nichts mehr. Ein Möbelwagen brachte seine Besitztümer in seine neue Wohnung. Dort blieb er, ging selten aus und arbeitete an Spielen, in denen Außerirdische getötet, Mutanten zerstört, Insekten vernichtet wurden. Er mußte nicht einmal in ein Büro gehen, die Firma erlaubte es ihm, daheim zu bleiben; er war ihr einziger Programmierer, der selbst die kompliziertesten Routinen direkt in Assemblersprache schreiben konnte. Als Julian ihn besuchte, saß er zwischen hohen Papierstapeln in einem weit zurückgekippten Sessel und starrte in die Luft, während sich auf einem übergroßen Bildschirmkleine Männchen bewegten, auf und ab sprangen, kicherten, mit Bällen jonglierten und einander mit einem Ausdruck heiterer Bösartigkeit wegschubsten. Paul war schweigsam und verstört, seine Augen sahen klein und müde aus. Ihn schien etwas zu beschäftigen, über das er nicht sprechen wollte. Ein Bild an der Wand zeigte einen See, Palmen, Berge im Hintergrund, zerfließend in nebliger Helligkeit. Nach einer halben Stunde stand Julian auf und murmelte einen Gruß, er war froh, daß er gehen konnte.
    Er öffnete die Wohnungstür, und seine Mutter begrüßte ihn leise. Auch sie sah in letzter Zeit nicht gut aus, seit einigen Monaten kam sie ihm vor wie eine ältere Verwandte ihrer selbst. Das Telefon läutete, sie hob ab und gab ihm mit einer seltsamen Miene den Hörer. Es war Clara, sie wollte ihn sehen, sofort.
    Er trat vor die Tür. Die Luft war kalt, und zum ersten Mal in diesem Jahr roch es nach Winter. Er schob die Hände in die Taschen und biß die Zähne zusammen, in dem hilflosen Versuch, seine Fröhlichkeit zu verbergen. Er
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher