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Der fernste Ort

Titel: Der fernste Ort
Autoren: Daniel Kehlmann
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kurzen und konzentrierten Pause geschehen. Als hätte Paul sich zuvor erst daran erinnern müssen, wie menschliche Reaktionen aussahen und daß es manchmal nötig war, sie in sich wachzurufen. Oder sie wenigstens zu imitieren.
    Julian hatte keine guten Noten. Er hatte Schwierigkeiten mit dem Rechnen, machte Fehler beim Schreiben, langweilte sich in den meisten Stunden bis zur Erschöpfung, und die Lehrer ließen an ihm ihren Ärger darüber aus, daß sein Bruder für sie unerreichbar blieb. Einmal, er wußte nicht warum, ließ die Biologielehrerin ihn nachsitzen, und andiesem Nachmittag – Handwerker lärmten draußen, Krähen wehten am Fenster vorbei, und er hörte die Schreie vom Fußballfeld – las er zum ersten Mal in einem Buch von Spinoza. Er verstand kein Wort, aber der Ton vollständiger Gelassenheit, die unbegreiflich höfliche Arroganz dieser Sätze, von denen jeder einzelne nachzuhallen schien, als würde er in einem großen Gewölbe ausgesprochen, beeindruckten ihn. Er las von Substanz und Attributen, von Modi, die einander begrenzten, und als er plötzlich Tränen fühlte, lag es bloß am Versagen seiner Augen: Immer wieder in der letzten Zeit hatte die Welt sich unverläßlich gezeigt, Gläser und Tassen waren vor seiner Hand zurückgewichen, Türklinken hatten sich seinem Griff entzogen, und Buchstaben hatten ihn durch geschickte Verrenkungen über ihre wahre Natur getäuscht. Der Augenarzt ließ ihn in einen Apparat blicken, wechselte Linse um Linse und fragte in immer gleicher Betonung: »Siehst du was? Na? Siehst du was?« Und er bekam seine erste Brille. Er ging damit zur Schule, sofort fegte Peter Bohlberg sie ihm mit einem gut gezielten Ballwurf vom Gesicht, und er bekam seine zweite, die billiger aussah und ein wenig schief saß. Er las Spinozas Ethik fertig und begann wieder von vorne. Dauernd wurde da etwas bewiesen, klar und unwiderleglich, nur daß er nie verstand, was; man hätte ständig irgendwo nachblättern müssen, alles war sehr kompliziert und gewissermaßen von ihm abgewandt, wie ein Gespräch, das er nicht hören sollte. Er begann von neuem, verstand immer noch nichts und nahm das Buch mit in die Ferien.
    Sein Vater hatte etwas von einem Rettungsversuch gesagt und ein Haus in den Bergen gemietet. Es schmiegte sich an den Hang und hatte ein Dach aus sehr alten Schindeln, unter denen winzige Spinnen lebten, die nachts ins Innere kamen und die man, wenn man Licht machte, noch für Sekundenbruchteile aus dem Rand seines Blickfelds fliehen sah. Julian mußte ein Zimmer mit Paul teilen, hörte nachts dessen Atemzüge, drehte sich von der einen auf die andere Seite und konnte zum ersten Mal nicht einschlafen. Stunde um Stunde verging, im Fenster sah er den Mond über die Schatten der Berge klettern. Bilder, Worte ohne Zusammenhang, aus Werbesprüchen gerissene Halbsätze, Melodien aus dem Fernsehen und die leeren Gesichter von Schauspielern: ein ratternder Leerlauf seines Bewußtseins, das nicht darin nachlassenwollte, auf sich selbst einzureden. Zum ersten Mal begriff Julian, daß er selbst etwas anderes war als diese Stimmen in ihm, als die Bilder und Laute, die seine Erinnerung aufbewahrte, etwas anderes auch als seine Gedanken. Er schloß die Augen, öffnete sie wieder und fand, daß es hell war und daß er doch geschlafen haben musste. Benommen setzte er sich auf. Pauls Bett war bereits leer, die Laken waren glatt, als hätte keiner darin gelegen.
    Bei Tag, während Paul gähnend auf dem Balkon saß und feindselig in die Sonne blickte, als könnte er es nicht erwarten, daß sie wieder verschwände, las Julian in der Ethik . Er verstand immer noch nichts, außer daß alles eines war, aber irgendwie dann wieder nicht, und daß es Freiheit nicht gab, oder eigentlich doch, denn sie bestand eben darin, zu begreifen, daß sie nicht da war. Er nahm sein Fahrrad, schob es auf einen Hügel – Paul schlenderte, die Hände in den Taschen, hinter ihm her –, stieg auf den Sattel, und stieß sich vom Boden ab. Er fuhr erst langsam, dann immer schneller, er spürte die Unebenheiten des Bodens und daß er gleich fallen würde, noch nicht, und jede Sekunde, noch nicht, war ein Triumph seines Gleichgewichts, noch nicht, und er wollte aufschreien vorFreude. Da kippte der Hang weg, und für einen Moment war der Himmel unter und das Gras über ihm, und ein Flugzeug erstarrte im nassen Blau. Dann lag er da, und all das war schon Erinnerung, und verwundert spürte er, wie auch die Gegenwart, sein
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