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Der Feind im Spiegel

Der Feind im Spiegel

Titel: Der Feind im Spiegel
Autoren: Leif Davidsen
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atmete und sein Puls langsamer ging. Und erst, als er Annas fragendes Gesicht im Schein der Leselampe bemerkte, wurde ihm bewußt, daß er zum erstenmal seit Jahren die andere verbotene Sprache gesprochen hatte, die Dänisch hieß und der Vergangenheit angehörte.

3
    Am nächsten Morgen fuhr John zu Tom’s Lodge. Das Frühstücksfernsehen hatte immer wieder dieselben Bilder gebracht. Dieselben nichtssagenden Analysen und mangelhaften Erklärungen, aber auch die ersten Verdächtigen. Es waren weit weniger Autos unterwegs als sonst an einem Mittwoch. Die Leute duckten sich hinters Steuerrad ihrer dicken Geländewagen, die in dieser Gegend ungeheuer beliebt waren, obwohl sie die asphaltierten Straßen sowieso kaum verließen. In der klimatisierten Kühle hinter den getönten Scheiben rollten sie verängstigt durch ihre gewohnte Vorstadtlandschaft, wo die Werbetafeln plötzlich deplaziert wirkten und das Geräusch eines Schildes, das im Wind quietschte, sie zusammenzucken ließ. Aber er fand das Leben in den Vereinigten Staaten gut und unkompliziert. Hier konnte man sich wunderbar in Luft auflösen. Freilich waren die Leute auch ziemlich naiv. Sie waren felsenfest davon überzeugt, daß die versammelte Erdbevölkerung nichts anderes zu tun hätte, als vom american way of life zu träumen. Außerdem hatten sie sich bis gestern für unverwundbar gehalten. Mal abgesehen von ihrem Bürgerkrieg hatte ja auch nie ein Krieg auf ihrem Boden stattgefunden. Die Amerikaner glaubten, Gott der Herr habe ihnen dieses Leben zugedacht. Nun war ihr Glaube erschüttert worden, aber seiner Einschätzung nach würden sie trotzdem so schnell wie möglich zu ihren alten Gewohnheiten zurückkehren. Sie konnten sich einfach nicht vorstellen, daß das Leben sich grundlegend ändern könnte.
    Trotz des strahlenden Sommerwetters waren in den Gärten so gut wie keine Kinder zu sehen, und die gelben Schulbusse waren halb leer. An den Auffahrten zu den Häusern oder auf den Terrassen hatten die Leute amerikanische Fahnen aufgehängt, auch die Fassaden der Geschäfte und Tankstellen waren damit drapiert. Seine Unruhe wollte nicht vergehen. Und zwar nicht nur, weil die Stimmung allgemein so gedrückt war, sondern auch weil er ein Bild, das er im Fernsehen gesehen hatte, nicht richtig einordnen konnte. Es war das ältere Schwarzweißbild eines etwa dreißigjährigen Mannes, den die Fernsehanstalten als einen der Selbstmordattentäter bezeichneten, aber der Mann hinter ihm beunruhigte John mehr. Es sah aus, als wären sie auf dem Weg ins Flugzeug von einer Überwachungskamera aufgenommen worden. Sie gehörten offenbar gar nicht zusammen, der hintere Mann schien bloß durch Zufall auf das Bild geraten zu sein. Er war in Johns Alter. Er war glatt rasiert, und seine Augen kamen John bekannt vor, obwohl das Foto so grobkörnig war.
    Das Personal war vollständig erschienen, aber die Gäste hatten sich wie gestern schon in der Lobby versammelt. Jeder hatte sein Handy am Ohr. Das Gepäck stand unordentlich herum. Die Leute glichen Passagieren, die auf einem bestreikten Flughafen festsaßen. Die modernen Schiffbrüchigen wollten nach Hause, aber es gab keinen Flug.
    Tom hockte in seinem Büro, vor ihm stapelten sich Faxe und ausgedruckte E-Mails. Er trug eine Baseballkappe und hielt eine Zigarette in der Hand. Im Aschenbecher lagen schon vier Kippen. Wortlos wies er auf den Stuhl vor dem Schreibtisch. John setzte sich. Tom legte seine Lesebrille auf die Schreibunterlage, drückte die Zigarette aus und warf John einen Stapel Papiere vor die Nase. John überflog einige von ihnen und legte sie wieder hin.
    »Scheiße, was?« sagte Tom.
    John nickte.
    Tom wühlte in dem Papierhaufen, als suchte er wenigstens nach einer einzigen Zeile, die etwas Gutes verhieß.
    »Alles mehr oder weniger derselbe Mist«, sagte er. »Und ein Wort taucht in jedem dieser Briefe auf, hundertpro, und das heißt: Absage. Aus der ganzen Welt, aber auch aus den USA. Alle sagen ab, alle stornieren – außer denen hier, aber ich glaube trotzdem nicht, daß die kommen.«
    Er schmiß John ein Schreiben hinüber, es segelte vor ihm auf den Tisch. Es war eine Reservierung für eine Woche Reiten plus dreimal Golf. Solche Sachen waren normalerweise nicht Johns Aufgabe.
    »Guck dir mal die Adresse an«, sagte Tom.
    John las und sah Tom an.
    »Ja«, sagte der. »Die Firma residierte im World Trade Center. Was meinst du, John, kommen die Yankees nun, egal ob sie unter einer Million Tonnen Schutt
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