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Der Feind im Spiegel

Der Feind im Spiegel

Titel: Der Feind im Spiegel
Autoren: Leif Davidsen
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liegen oder ob sie überlebt haben? Hhm, was meinst du, kommen sie trotzdem?«
    »Kaum.«
    »Kaum, sagt er. Kaum. Würde sagen, das ist die Untertreibung des Jahres. Die mieseste Untertreibung dieses Jahres. Denn ich sag dir, Junge, die kommen nicht. Und zwar scheißegal, ob sie am Leben sind oder nicht. Es wird verdammt lange keiner mehr kommen.«
    »Das geht vorüber.«
    Tom kniff die Augen zusammen und zündete sich eine neue Zigarette an. Im Büro herrschte ohnehin schon eine Luft, die man kaum mehr als solche bezeichnen konnte, obwohl die Ventilation, der Lautstärke ihres Summens nach zu urteilen, bis zum Anschlag aufgedreht war. John fröstelte in seinem dünnen T-Shirt, aber das lag nicht nur an der Kälte – es kam eher von innen.
    »Hast du gestern auch schon gesagt. In nächster Zukunft wird sich jedenfalls nichts ändern. Nimm dir frei. Das Personal muß ich zum größten Teil behalten, bis die Gäste von hier wegkönnen, aber die Animateure schicke ich nach Hause. Für euch gibt’s nichts zu tun.«
    »Schmeißt du mich raus?«
    Toms Blick wurde ein wenig sanfter, seine Augen verloren ihren schwarzen Schimmer.
    »Nein, John, ich schmeiß dich nicht raus. Ich gebe dir vorübergehend frei. Du hast eh noch was gut. Du kriegst noch ein Gehalt, dann werden wir weitersehen. Vielleicht hast du recht, vielleicht geht es vorüber.«
    »Sonst noch was?« fragte John.
    »Nein. Und John: Es tut mir leid.«
    »Ist ja nicht deine Schuld.«
     
    Auf dem Heimweg kaufte John eine amerikanische Fahne. Im Einkaufszentrum herrschte alles andere als geschäftiges Leben, aber das Sternenbanner, das er gerade noch ergattern konnte, war eines der letzten gewesen. Auch Waffen gingen weg wie warme Semmeln. Joe’s Gunsmith war gerammelt voll mit Kunden, die Gewehre und Pistolen in den Händen hielten. Wozu sollte das gut sein? Aber daß die Amerikaner Waffennarren waren, hatte er längst einsehen müssen. War schon ein komisches Land, wo man in einer Bar nicht rauchen oder unter einundzwanzig Jahren keinen Drink bestellen durfte, sich aber problemlos und ganz legal todbringende Waffen beschaffen konnte.
    Während er nach Hause fuhr, dachte er an seine Finanzen. Er durfte es nicht offen zeigen, aber das Geld war nicht das schlimmste Problem. Auf den Geheimkonten aus seinem früheren Leben im Untergrund lagen noch stattliche Beträge. Er hatte sich nie auf andere verlassen und immer dafür gesorgt, daß er genug Reserven hatte, um eine eventuelle Flucht zu finanzieren. Aber an das Geld zu kommen wäre schwierig. Außerdem bekäme er ein Erklärungsproblem: Wenn er seinen Job verlöre, würden die Nachbarn sich fragen, wovon er seine Familie ernährte. Und das war das letzte, was er gebrauchen konnte. Aber noch weniger wollte er, daß Anna und die Kinder dieses ruhige, stabile und banale Leben, das er in den letzten drei Jahren für sie aufgebaut hatte, aufgeben müßten.
    Er hängte die Fahne ans Haus, setzte sich auf die Terrasse und las die Zeitungen, die er im Kiosk des Einkaufszentrums gekauft hatte, die Los Angeles Times, die New York Times, das Wall Street Journal und die amerikanische Ausgabe der Financial Times. Annas kleines Auto stand nicht in der Einfahrt. Wahrscheinlich war sie mit den Zwillingen zu ihrer Freundin Jenny gefahren, die acht Häuser weiter wohnte. Sorgfältig las er alle Artikel. Die Zeitungen schrieben von einem Terrornetzwerk, das sie al-Qaida nannten, und der Spinne im Netz namens Osama bin Laden. Der Name sagte ihm irgend etwas, aber in den letzten Jahren hatte er weder die Innen- noch die Außenpolitik verfolgt. Die Welt außerhalb ihres friedlichen Fleckchens Erde sollte ihnen nicht zu nahe kommen. Jetzt las er alles, was die Zeitungen schrieben, und schaute sich die Bilder an, darunter auch das Schwarzweißfoto aus dem Fernsehen, und dachte lange über das nach, was der amerikanische Justizminister unter der Überschrift »USA wollen Informanten belohnen« verkündet hatte: »Ausländer, die uns brauchbare Informationen über Terroristen geben, können zur Belohnung mit einer schnelleren Einbürgerung rechnen. Wir würden sogar mit dem Teufel zusammenarbeiten, wenn das nötig sein sollte, um die terroristische Bedrohung von den USA abzuwenden und die Terroristen unschädlich zu machen oder sie vor Gericht zu bringen.«
    Er ließ die Zeitung in den Schoß sinken und blickte auf die gepflegten Rasenflächen. Dann ging er ins Wohnzimmer und holte Annas Ausweise. Er hatte sie über das alte KGB-Netz
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