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Der Feind im Spiegel

Der Feind im Spiegel

Titel: Der Feind im Spiegel
Autoren: Leif Davidsen
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Wüste gut verkraftet zu haben. Sie hatten gelernt, mit Proviant und Wasser auszukommen und nach den Märschen durch die Hitze unter freiem Himmel zu schlafen. Sie waren gut in Form.
    Auf den ersten Blick sah die Wüste eintönig und langweilig aus, aber das stimmte nicht. Sie war kein flaches Gemälde, sondern wie eine Palette, auf der die verwitterten Steine und Felsformationen vor Hitze flirrten. Es war, als tanzten sie in einem verzauberten Licht. Ständig änderte diese Landschaft ihren Charakter, selbst im trockensten Sand wuchsen kleine Pflanzen und Gebüsch, und Tiere überlebten in Spalten und Ritzen und fanden Wasser, wo es gar keines zu geben schien. An diesem Morgen war die Wüste ockergelb und rot, es waren Farben wie auf einem impressionistischen Bild, und er erinnerte sich daran, wie überwältigt er in seinem ersten Frühjahr gewesen war, als nach einem plötzlichen heftigen Regenguß überall Blumen aus dem Sand sprossen. Die Wüste war damals so wundersam zum Leben erwacht, daß Emma und er Hand in Hand und lachend wie ausgelassene Schulkinder in das Blumenmeer hinausgelaufen waren. Zum erstenmal hatten sie sich frei und sicher gefühlt, sie hatten sich im Sand geliebt, und der Alptraum von der Blutwalze hatte ihn seitdem nicht mehr heimgesucht. Bis dahin war er oft schweißgebadet und mit einem Schrei erwacht, und Emma halte ihm über das Haar gestrichen und die verbotenen serbokroatischen Worte geflüstert. Sie beruhigten ihn, er brauchte die vertraute Sprache der Kindheit, um das Grauen abschütteln zu können. Diese Sprache erinnerte ihn daran, daß seine Mutter einst in einem kleinen Land am Meer gelebt hatte mit einer Sprache und Gebräuchen, die auch die seinen geworden waren. Aber diese Welt und die andere, die weit gefährlichere Kriegswelt lagen nun hinter ihnen. Sie waren wie neu geboren. Sie konnten nie mehr zurück. Sie konnten nicht das Wagnis eingehen, einen Paß zu beantragen. Aber das machte auch nichts. Ihr Leben spielte sich jetzt im Tal des Todes ab. Vuk hieß jetzt John. Und Emma Anna. Und die Zwillinge Cathy und Jonathan durften die alte Sprache niemals hören, weder von ihm noch von Emma. Das hatte er ihr in ungewohnt grobem Ton gesagt, eigentlich in einem Augenblick größten Glücks und Stolzes, als nämlich die beiden Neugeborenen in ihren Armen lagen und sie ihnen zärtliche Worte ins Ohr flüsterte. Ihre Muttersprache war Amerikanisch, eine andere Sprache brauchten sie nicht. Nie sollten sie erleben, daß die Blutwalze alles Lebendige auf ihrem Weg zermalmte. Ihr Leben kannte keine Bindungen und keine Verdrängungen der Vergangenheit. Sie waren in einem Land geboren, das sie ihr Land nennen würden, andere Länder wären bloß fremde, sonderbare Orte. Er würde eine Familiengeschichte für sie erfinden, die ebenso wahr wäre wie die echte. Aber die durften sie niemals kennenlernen, weil sie den Keim ihres Untergangs in sich barg.
    Er schüttelte diese Gedanken ab, sie waren gefährlich und unnütz. Er mußte sie im Zaum halten. Die Vergangenheit existierte nicht, wenn man es nicht wollte. In diesen Vereinigten Staaten konnte die Vergangenheit ganz nach Wunsch geformt werden. Wenn du deine Arbeit machst und den Christengott fürchtest und ehrst und der Fahne huldigst wie ein guter Mensch, dann darfst du dich einen der Unsrigen nennen. Wir legen dir nicht zur Last, was du einmal gewesen bist. Wir sind ein Volk von Wanderern und Immigranten. Wir kommen von überall her. Wir waren alle irgend etwas, ehe wir Amerikaner wurden, doch nun sind wir alle ein Teil von Gottes Eigenem Land. Andere sind neidisch auf uns, aber wir kennen die anderen Länder nicht, und sie interessieren uns auch nicht. Wir haben alles, was wir brauchen. Wir sind Gottes auserwähltes Volk. Erschaffe dir ein Leben und sei willkommen.
    Er hörte die Feinde wieder. Er mußte sich auf ihren Angriff konzentrieren. Die drei auf dem linken Flügel bewegten sich auf ihn zu; sie krochen an den Felsformationen entlang, während die anderen ihr Zangenmanöver einleiteten, mit dem sie schräg hinter ihn gelangen würden, wenn die erste Gruppe mit ihrem Sturmlauf anfing. Sie wußten, wo er war. Sie hatten ihn gefunden. Er hatte absichtlich Spuren hinterlassen, die sogar sie lesen konnten, die aber nicht so offensichtlich waren, daß sie ihn durchschauten. Er schätzte ihre Vorsicht, sie schoben sich behutsam auf ihn zu. Bald mußten sie sich aufrichten, wenn sie zum Schuß kommen wollten. Es war eine Sache des
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