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Der Feigling

Der Feigling

Titel: Der Feigling
Autoren: Hans Gruhl
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Teenagergetue, gespielte
Gleichgültigkeit, alles war nur äußerlich.
    Barbara trug ein weißes Leinenkleid,
Symbol der Unschuld gewissermaßen, aber es saß sehr knapp. Der ausgewachsene
Engel war dicht darunter. Sehr guter Ernährungszustand, keines von den
ätherischen Wesen, wie sie hier dutzendweise herumschwebten und leidend
aussahen. Durchaus höhere Tochter mit Kakao ans Bett und regelmäßigen
Mahlzeiten. Eine Figur, von der man wünschte, sie stände einem beim
Tennisspielen gegenüber. Über dem Kleid saß eine Jacke aus blauem Wildleder.
Die Tasche war der übliche, unhandliche Kegel mit Falten außen und Unordnung im
Innern.
    Das Mädchen schmierte kühne, flüchtige
Buchstaben.
    »Das ist gut«, sagte der Mann neben
ihr. »Übungen zur Theaterkritik. Lohnt sich. Während der Geschichte der
Zeitungskunde kann man dann ausschlafen.«
    »Ich gehe nicht in die Vorlesungen, um
zu schlafen«, sagte sie über die Unterlippe weg.
    »Spätestens im zweiten Semester fangen
Sie damit an. Übrigens wäre es gut, wenn Sie üben, im Stehen zu schlafen.
Stehen müssen Sie bestimmt.«
    »Ich werde auch niemals stehen.« Sie
schlug ihr Heft zu. »Vielen Dank, Herr...«
    »Hase«, sagte er traurig. »Sie werden
es nicht für möglich halten. Hase.«
    Auch das noch, dachte Barbara. Es war
Zeit, Schluß zu machen. »Vielen Dank, Herr Hase.« Sie nickte kurz und ging weg.
Er versuchte nicht, ihr zu folgen. Sie spürte nur seinen Blick hinter sich und
auf ihren Beinen.
     
    *
     
    Acht Tage später, am 9. Mai, sah
Barbara den Feigling zum zweitenmal.
    Der Hörsaal war übervoll. Kein Gedanke,
einen Platz zu kriegen. Mehr Stehplätze als Sitze. Die Fensterbretter quollen
über, und das Podium drohte zusammenzubrechen.
    Barbara sah ratlos um sich. Kein
bekanntes Gesicht, niemand riß sich darum, ihr einen Platz anzubieten. Blöde
Bande. Dann erhob sich zwischen dem Meer von Köpfen eine Hand. Jemand winkte zu
ihr herüber.
    Barbara sah einen runden Schädel und
die Wasseraugen unter dem Haarbestand. Der Mensch von damals, dieser Greis.
Jetzt entdeckte sie, daß neben ihm ein Platz frei war. Schmal, aber ein Platz.
    Barbara rang mit sich. Zwei Stunden
neben dem blöden Kerl sitzen. Scheußlich. Diese dummen Sprüche. Na ja. Besser
als zwei Stunden stehen, neben anderen blöden Kerlen. Und dann diese Schuhe.
Italienische. Absätze wie Stricknadeln. Schon jetzt brannten ihr die Sohlen.
    Sie drängte sich schon durch die
Sitzreihen, bevor sie wußte, was für einen Entschluß sie fassen würde.
Aufatmend ließ sie sich nieder. Der Feigling sagte nichts.
    Nach einer Weile raffte Barbara sich
auf. »Vielen Dank, Herr Hase.«
    »Das muß ich schon mal gehört haben.«
Er murmelte wie immer, als fürchtete er, es könnte ihn jemand auslachen wegen
seiner Worte. »Ich dachte mir, daß Sie in der kurzen Zeit noch nicht gelernt
haben, im Stehen zu schlafen.«
    Barbara richtete ihre Nase zur Decke.
»Ich sagte Ihnen ja, daß ich niemals stehe!«
    »Donnerwetter«, antwortete er. »Sie
haben recht.«
    Von der Tür her erhob sich Getrommel
und Trampeln. Der Professor quälte sich durch seine Jünger. Er erreichte das
Pult, und der Lärm legte sich.
    Die Augen des Mannes überflogen die
dichte Menge.
    Er lächelte verschmitzt. »Meine Damen
und Herren — es freut mich, daß Sie der Theater- und Filmkritik eine solche
Bedeutung beimessen. Früher konnte man den Wert einer solchen Vorlesung
ungefähr nach der Zahl der Schwarzhörer abschätzen. Darf ich fragen, wieviel
Schwarzhörer sich zur Zeit im Saal befinden?«
    Das Gelächter verstummte allmählich.
Köpfe reckten sich, Blicke wanderten herum. Keine Hand hob sich.
    Barbara drehte den Kopf langsam. Sie
war gespannt, was er tun würde. Er war sowieso verdächtig. Sie hatte noch
keinen entdecken können, der älter aussah.
    Der Feigling meldete sich nicht. Er
wurde kleiner, immer kleiner. Sein Kopf rutschte tiefer, fast bis zur Bank
hinunter. Er suchte Deckung hinter seinem Vordermann.
    Barbara empfand ein Gefühl der
Enttäuschung. Sie wußte nicht, weshalb. Er hatte es nicht nötig, sich zu
melden. Irgendwie wäre ihr lieber gewesen, er hätte es getan.
    Die Stimme des Professors drang zu ihr.
»Niemand? Nicht gerade die beste Reklame für mich. Aber da wir ohnehin zuwenig
Raum haben, es ist vielleicht besser so. Und nun zu unserem Thema.« Er sprach
weiter. Barbara sah, wie der Feigling wieder hochkam, ganz langsam.
    Die Zeit verging schneller, als sie
erwartet hatte. Das Thema war
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