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Der Feigling

Der Feigling

Titel: Der Feigling
Autoren: Hans Gruhl
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interessant. Der Feigling verhielt sich ruhig.
Nur einmal schob er ein Blatt Papier vorsichtig zu ihr hinüber. Oben stand ein
Datum. 2. Mai 1961. Darunter hatte er versucht, zwei gebückte Gestalten zu
malen, einen Mann und eine Frau. Der Mann hatte eine überdimensionale Glatze
und die Frau eine gewaltige Stupsnase, die sie in seinen Hirnschädel bohrte.
Barbara zog die Brauen hoch und schob das Blatt zurück. Der Feigling starrte
bekümmert auf sein Kunstwerk.
    Gegen Ende der Vorlesung wurde Barbara
entsetzlich müde. Ein paarmal merkte sie, wie ihr Kopf vornüberfiel. Beim
letztenmal entging es ihr. Erst das Getrampel weckte sie auf. Jemand hatte sie
am Arm gefaßt. Die Augen des Feiglings waren voller Teilnahme.
    »Ich hab’ aufgepaßt, daß Sie nicht mit
der Stirn auf die Tischplatte bumsen. Das hätte man gehört. Aber Sie können es
schon ganz gut für ein erstes Semester. Einwandfreie Haltung.«
    Barbara war wütend. Sie suchte nach
einer schnippischen Antwort, während sie sich hinausdrängelte, aber dann fiel
ihr ein, daß es nett gewesen war, ihr den Platz freizuhalten, und daß sie ihn
vielleicht ungerecht behandelte. Sie wandte sich um, als sie die Tür vor sich
hatten.
    »Nochmals, vielen...«
    »... Dank, Herr Hase. Darf ich fragen,
wie Sie heißen?«
    »Thomann.«
    »Thomann. Ich hab’ schon gedacht, sie
wären adlig. Hm. Und — Vorname?«
    »Barbara. Bärbel.«
    »Hm, hm, hm.« Er murmelte wieder und
starrte zu Boden, als dächte er an etwas. »Äh — ja. Die Schutzheilige der
Artillerie. Hm. Fräulein Barbara — wenn ich so sagen darf —, interessieren Sie
sich für den fernen Osten?«
    Eine Falte erschien über ihrer Nase.
    »Ferner Osten? Wie kommen Sie darauf?«
    »Es ist jetzt eins«, sagte er. »Der
Hungerwurm dehnt sich mir achtzehn Ellen durch die Gedärme. Ich weiß ein
chinesisches Lokal mit einem äußerst fernöstlichen Wirt und gewaltigen
Gerichten. Kein Mensch weiß, was er ißt. Wollen Sie mitkommen?«
    Sie hatte das Nein auf der Zunge. Aber
gleichzeitig kam die Empfindung, die sie kannte. Wenn ein Jüngling aus der
Tanzstunde sie zu einem Spaziergang eingeladen hatte oder ein Bekannter ihres
Vaters zu einer Autofahrt, dieses komische: »Warum eigentlich nicht?«
    »Ich bezahle aber meins«, sagte sie.
    »Das will ich hoffen«, antwortete er
sofort.
    Barbara ging mit.
    Der Feigling hatte einen ungewaschenen,
schwarzen Mercedes. Barbara war nicht überrascht und nicht erstaunt. In seinem
Alter konnte man das erwarten.
    Sie fuhren langsam durch den
Straßenlärm, an Ampeln und Ecken vorbei. Für ihre Begriffe fuhr er viel zu
zaghaft und zu langsam.
    Das Lokal lag in einer Einbahnstraße,
man konnte sogar parken. Hase ging vor ihr durch die Tür. Sie sah eine Mischung
von chinesischer Taverne und bayerischer Bierschwemme.
    »Willkommen in China«, sagte er.
»Nehmen Sie Platz, Fräulein Thomann. Der Wirt heißt Wu. Schlicht Wu. Und hier
ist die Karte. Verstehen Sie etwas von chinesischem Essen?»
    »Bißchen.«
    »Hm. Sie können natürlich Haifischflossen
mit Löwenbräu zu sich nehmen. Aber wenn Sie meinem weisen Rat folgen wollen,
lassen Sie mich was aussuchen.«
    Herr Wu kam und lächelte. »Guten Tag,
Herr Doktor.«
    »Tag, Herr Wu. Unser lieber Wirt vom
Gelben Strom — Fräulein Thomann.«
    Der Wirt verneigte sich und lächelte.
    Es kamen zwei Reisschnäpse mit einem
betäubenden, fremdartigen Geschmack nach Heu und ewiger Trockenheit. Barbaras
Appetit wuchs. Es kam ein Krebssalat, wie sie ihn noch niemals gegessen hatte.
Dann war eine Pause. Barbara fragte etwas.
    »Herr Hase — warum haben Sie sich nicht
gemeldet, als er nach den Schwarzhörern fragte?«
    Der Feigling schien leicht verlegen.
»Ach, wissen Sie — es ist mir peinlich. Der Laden ist so voll, daß kein
Bleistift hinunterfallen kann, ohne hängenzubleiben. Die ganze Uni ist
überfüllt. Viel zuwenig Platz für den Haufen. Der Alte hätte vielleicht noch
Verständnis für Schwarzhörer, aber die lieben Kommilitonen...«
    »Was machen Sie eigentlich?«
    »Ich — ich bin Schriftsteller. Aber —
fragen Sie mich nicht nach meinen Werken. Alles nur Kleinigkeiten, Illustrierte
und so. Aber man verdient wenigstens was. Von zwanzig Bänden ungedruckter Lyrik
könnte ich nicht leben und nicht hier essen.«
    »Sie sind Doktor?«
    »Hab’ eine Arbeit über Kriminalromane
zusammengeschmiert. Und jetzt gehe ich ab und zu noch in Vorlesungen, die mich
interessieren. Wie die Theaterkritik. Oder irgendwas über Literatur.
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