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Der Favorit der Zarin

Der Favorit der Zarin

Titel: Der Favorit der Zarin
Autoren: Boris Akunin
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Metastasio nicht; wenn er sich da blicken lässt, kann er was erleben. Fürst Platon wird eine Weile toben und sich dann beruhigen – er wird schon ein anderes, fügsameres Objekt finden. Komm, Daniel! Lass uns leben und uns lieben, so lange es der Herrgott gibt. Und Mitja nehmen wir mit. Man muss nur seinem Vater und seiner Mutter erklären, dass das geschieht, um ihn zu retten.«
    »Die brauchen keine Erklärung!«, schrie Samson, überwältigt von der überragenden Einfachheit dieser Idee. Und das, wo man behauptet, der Verstand des weiblichen Geschlechts sei schwächer als der des männlichen. »Klar komme ich mit!«
    »Aber ich bin zu alt für Euch«, sagte Vondorin ängstlich.
    »Wenn zwei sich lieben, haben sie immer dasselbe Alter«, antwortete die Gräfin altklug.
    »Ich bin bettelarm, ich besitze nichts.«
    »Du kränkst mich mit diesen Worten. Du wirst noch um Verzeihung für sie bitten.«
    »Außerdem«, sagte Daniel niedergeschlagen, »habe ich ein Kind aus einer früheren Ehe. Da, es steht vor Euch. Ich habe es gesucht und unverhofft gefunden.«
    Pawlinas Blick wanderte erstaunt von Vondorin zu dem Jungen; intuitiv erriet sie, was er meinte.
    »Das ist nicht deins, sondern unser gemeinsames Kind. Und wenn du nicht die Mutter deines Sohnes heiratest, dann verlierst du das Recht, als anständiger Mensch zu gelten. Guck mal, er ist auf deinem klapperigen Schlitten schon fast erfroren. Husch in die Kutsche, Mitja.«
    »Ich heiße Samson«, korrigierte der Sohn.
    ***
    Kurz vor der Vorstadt Dragomilowo stießen sie auf eine vom Exerzierplatz zurückkehrende Grenadierskompanie. An der Spitze marschierten die Trommler, Löffelspieler und jungen Flötisten. An der Seite schritt ein Unterbefehlshaber, offenbar schlief der Kompaniehauptmann zu dieser frühen Morgenstunde noch.
    Die Flöten pfiffen monoton ihre Marschmelodie, die Trommeln fielen ein, wie es gerade kam, und die Löffelspieler hatten ihre Instrumente aus Ahornholz noch nicht einmal hervorgeholt.
    Pawlina befahl dem Kutscher, Halt zu machen, und winkte den Offizier zu sich.
    »Sagt einmal, verehrter Herr Offizier, können Eure Musikanten das Lied › Wenn ich an dein Ufer geh ‹ spielen?«
    »Selbstverständlich, gnädige Frau«, antwortete der vom Frost rotwangige Offizier und betrachtete die schöne Dame mit Vergnügen. »Das ist das neue Opus des Herrn Neledinski-Melezki, ganz Moskau singt es.«
    Und er trällerte laut und mit Gefühl:
    Wenn ich an dein Ufer geh, schau ich in den schnellen Strom,
    Nimm mein Leid, du schneller Strom, trag es weit, so weit es geht!
    »Dann sollen sie es bitte spielen«, sagte Pawlina. »Und wenn sie sich richtig ins Zeug legen, gebe ich der ganzen Kompanie einen aus.«
    »Und was kriege ich?«, fragte der Unterbefehlshaber kess.
    Der strenge Daniel wollte in der Kutsche aufbegehren, aber die Gräfin gab ihm einen Stoß gegen die Brust und bedeutete ihm: immer mit der Ruhe.
    »Ihr bekommt einen Kuss«, versprach sie, »genauer: eine Kusshand.«
    »Einverstanden!«
    Der Offizier wandte sich an die Musikanten und sagte:
    »He, ihr lahmen Enten! Ihr habt genug Trübsal geblasen. Los, spielt mal: › Wenn ich an dein Ufer geh ‹ ! Aber lustig und mit Schwung! Die gnädige Frau spendiert etwas. Eins, zwei, drei! He, Flöten, fangt an!«

DREIUNDZWANZIGSTES KAPITEL
    VÄTER UND SÖHNE
    (Turgenew, 1862)
    Und sauber und ausdrucksvoll stimmten die Flöten den herzzerreißenden Marsch an, der die Soldaten betrauerte, die in einem fernen, lange vergessenen Krieg gefallen waren.
    Dieser kleine, in der Umgebung von Moskau liegende und erst vor kurzem der Verwilderung entronnene Friedhof hatte wohl kaum schon einmal eine solche Beerdigung erlebt. Allenfalls im Jahre 1812, als man hier die Soldaten beerdigte, die nach der Schlacht von Borodino an ihren Wunden gestorben waren. Es war durchaus wahrscheinlich, dass irgendwo hier, in einem der Massengräber für diejenigen, »die du, o Herrgott, beim Namen riefest«, auch der ferne Urahn von Nicholas, der junge Professor der Moskauer Universität Samson Fandorin, lag, der sich zur Landwehr gemeldet hatte und bei den Kämpfen um Schewardino verschollen war.
    Aber auch damals, vor zwei Jahrhunderten, hatte sich auf dem Friedhof wohl kaum eine so illustre Gesellschaft versammelt. Die Trauermusik wurde von einem weltberühmten Sextett gespielt, und auf den ordentlichen Wegen, zwischen den sorgfältig restaurierten alten und noch luxuriöseren neuen Grabsteinen drängte sich eine Unmenge
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