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Der Favorit der Zarin

Der Favorit der Zarin

Titel: Der Favorit der Zarin
Autoren: Boris Akunin
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drehte sich der Kutscher auf einmal um, und Mitja wurde sofort klar, dass ihn keine neue Qual erwartete. Seine Qualen waren zu Ende, und wenn er sich nicht schon jetzt in der besseren Welt befand, dann war er jedenfalls unterwegs zu ihr.
    Die Pferde lenkte Daniel Vondorin, und sein Gesicht war zwar müde, aber außerordentlich zufrieden.
    Bei den Griechen heißt der Charon (dachte Mithridates, dessen Kopf noch nicht ganz klar war). In Griechenland ist es ja immer warm, und der Styx friert im Winter nicht zu. Aber bei uns in Russland, da kommt man nur mit dem Schlitten über das Eis ins Jenseits.
    »Daniel Ilarionowitsch«, erkundigte er sich krächzend, »dann hat er Euch also ebenfalls umgebracht? Macht Ihr Euch jetzt hier als Charon nützlich? Oder kommt Ihr mir entgegen, damit ich keine Angst habe? Ich habe gar keine Angst.«
    »Keine Sorge«, antwortete der Charon Daniel, »die bleierne Schläfrigkeit wird dir in der Kälte bald vergehen. Ich habe an dem Geruch erkannt, dass er dich mit einer auf Spiritus angesetzten Kalktünche betäubt hat. Das Einzige, was ich nicht verstehe: Warum wollte Maslow dich lebendig begraben? Womit hast du dir seinen Zorn zugezogen? Oder gehorcht auch er dem Italiener? Wohl kaum!«
    Lebendig begraben? Wie bitte?
    Nach den Regeln der Höflichkeit musste er zuerst die Frage des Gesprächspartners beantworten und konnte erst dann seine eigene Frage stellen.
    Mitja wollte antworten, aber sein Mund war zu trocken, er konnte nur husten. Er nahm ein wenig Schnee von den Kufen und schluckte ihn hinunter. Das half.
    »Der Große Magier, das ist kein anderer als Maslow. Er hat ein Doppelkreuz auf dem Steißbein. Die beiden sind unabhängig voneinander, Metastasio ist ein Verbrecher und Maslow auch.«
    Vondorin pfiff durch die Zähne.
    »Moment mal, mein Freund. Wie kann das sein? Und woher weißt du das mit dem Steißbein? Ich habe es doch gar nicht geschafft, dir davon zu erzählen, wie die Satanophagen ihr Oberhaupt küren. Die Mitglieder des Ordenskapitels weihen den maskierten Mann, ihren neuen Magier, indem sie ihm geheime Zeichen aufdrücken: zwei anstelle der Hörner und eins anstelle des Schwanzes.«
    »Ihr habt das nicht geschafft«, sagte Mithridates gereizt. »Wenn Ihr es geschafft hättet, wäre alles anders gekommen. Dann wäre ich nämlich nicht geradewegs in die Höhle des Löwen spaziert und hätte meine Eltern nicht verloren.«
    »Wie das?«, schrie Daniel. »Was ist denn deinen verehrten Eltern zugestoßen?«
    »Eine Mutter habe ich eigentlich nie richtig gehabt«, sagte Mitja leise. »Und Vater . . . Der ist jetzt auch ein Abrahamsbruder. Er hat seinen Sohn Isaak nicht geschont. Und wird wohl auch noch weiter auf steigen – direkt ins Ordenskapitel. . .«
    Vondorin wollte den Mund öffnen, klappte ihn aber gleich wieder zu. Er wartete lieber mit weiteren Fragen und murmelte nur:
    »Mauvais rêve! Nightmare!«
    Mitja zuckte zusammen, als er von einem Traum reden hörte, und fragte ängstlich:
    »Daniel Ilarionowitsch, seid Ihr nur ein Gespenst? Oder seid Ihr lebendig, und ich sehe Euch wirklich? Ihr habt doch gesagt, sie haben mich lebendig begraben? Und woher kommt Ihr dann?«
    Vondorin lehnte sich zurück und stützte sich auf den Ellenbogen. Da er die Zügel gelockert hatte, verfielen die Pferde in eine langsamere, aber fröhlichere Gangart.
    »Warte mal, ich erzähl dir gleich alles, wir haben ja noch einen weiten Weg vor uns«, versprach Daniel und runzelte die Stirn. »Das, was du mir erzählt hast, wirft auf vieles ein anderes Licht. Das muss ich erst mal rutschen lassen . . . Aber hör doch die merkwürdige Geschichte, die mir passiert ist, den Rest verschieben wir auf später . . . Nachdem wir uns getrennt hatten und ich mein Schicksal in die Hände der Diener des Gesetzes gelegt hatte, war ich sehr traurig und nachdenklich. Worüber, oder genauer, an wen ich zu jener nächtlichen Stunde dachte, ist unschwer zu erraten. An sie, die mir einen kurzen Augenblick der Seligkeit geschenkt hatte und auf immer von mir geschieden war. Ich muss gestehen, dass ich dagegen an dich keinen Gedanken verschwendet habe, denn ich wähnte dich in vollkommener Sicherheit und wäre nie auf die Idee gekommen, dass ich meinen unschätzbaren Freund eigenhändig einem blutrünstigen Ungeheuer anvertraut hatte. Was für ein Versehen, um nicht zu sagen, Verbrechen. Meine Schuld vor dir ist unermesslich. Ich wage es noch nicht einmal, dich um Verzeihung zu bitten.«
    »Daniel Ilarionowitsch«,
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